In der Stunde der Not, meinte Franz Müntefering zu einer Zeit, als er noch SPD-Vorsitzender war, in der Stunde der Not gehen die Leute in die Kirche oder zu den Volksparteien. Von wegen! Die Leute gehen; aber sie gehen weder in die eine noch zu den anderen, sie gehen fort und kommen niemals wieder. Seitdem Kirchen und Volksparteien der Kanzlerin folgen und aus ihrer Abneigung gegen das Volk kein Geheimnis mehr machen, antwortet das Volk, indem es ihnen den Rücken kehrt.
Die Zahl der Kirchen- und Parteimitglieder schwindet ständig; was Prälaten und Präsides, Vorsitzende und Fraktionsführer aber nicht zu irritieren scheint. Was sie am Volk, dem großen Lümmel, schätzen, ist weder Einsatz noch Glaube, sondern das Geld. Solange davon genug hereinkommt, können sie auf Mitarbeit und Zuwendung, Interesse und Partizipation ganz gut verzichten.
Und das Geld kommt. Die Steuereinnahmen steigen und erreichen Jahr für Jahr neue Rekordmarken. Kirchen und Parteien waren weitschauend genug, das System so einzurichten, daß sie am Wohlstand und am Wachstum kräftig partizipieren. Allein der Evangelischen Kirche fließen in diesem Jahr fast sechs Milliarden aus Steuermitteln zu, weitere Einnahmequellen nicht mitgerechnet.
Obwohl dieser Reichtum der christlichen Botschaft, die Armut und Bedürfnislosigkeit verherrlicht, hohnspricht und die Glaubwürdigkeit der Kirche beschädigt, wagt keine Partei, das deutsche Kirchensteuerrecht anzugreifen. Die Kirchen zeigen sich erkenntlich und bedanken sich, indem sie den Machthabern zu Diensten sind.
Unglückliche Kopie des genauso unglücklichen Radikalenerlasses
Schon vor Jahren hatte sich die Evangelische Kirche in Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz unter Führung von Bischof Markus Dröge auf eine sogenannte Extremistenklausel verständigt, eine unglückliche Kopie des genauso unglücklichen Radikalenerlasses, mit dem die SPD versucht hatte, sich die Vertreter der strammen Linken vom Hals zu halten. Jetzt geht es gegen Rechts, und das macht mehr Spaß.
Die Kirche sucht nach Wegen, Mitglieder, Wähler oder Sympathisanten der AfD von der Bewerbung um das Amt eines Gemeindeältesten abzuhalten. Da die Befähigung zum Gemeindeältesten allerdings ein Recht ist, das, wie eine innerkirchliche Handreichung erläutert, nur unter engen Voraussetzungen eingeschränkt werden kann, bedarf es dazu handfester Gründe. Welcher?
Die Verpflichtung, „sein Leben am Evangelium Jesu Christi auszurichten“, klingt schön, bringt aber wenig. Zu der haben sich ja nicht nur die vielen frommen Leute bekannt, die Hexen foltern, Ketzer verbrennen und Könige ermorden ließen; auch Reichsbischof Ludwig Müller soll sich aufs Evangelium berufen haben. Am Ende landen auch die Kirchenleute aus Berlin-Brandenburg bei der resignierenden Erkenntnis, daß die Heilige Schrift als Quelle für parteipolitisch motivierte Dienstanweisungen nicht viel hergibt. Was also dann?
Catch-all-Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“
Berichte des Verfassungsschutzes. Auf die verweist die Handreichung als nächstes. Die Klassifizierung als rechtsextrem – Linksextreme kennt die Berliner Kirche nicht – sei ein starkes Indiz dafür, daß die gemeinte Gruppierung menschenfeindliche Ziele verfolge und damit von einer Mitarbeit im Gemeinderat ausgeschlossen sei.
Das klingt mannhaft, führt aber auch diesmal nicht viel weiter, weil unter dem Rubrum „rechtsextrem“ zwar alle möglichen Kampfbünde aufgeführt werden, die AfD aber gerade nicht. Da auch ihr Grundsatzprogramm nicht genug hergibt, um der Partei menschenfeindliche Absichten anzudichten, müssen sich die Kirchenleute mit der Feststellung bescheiden, daß allein die Mitgliedschaft oder die Unterstützung der AfD vom Ältestenamt nicht ausschließe.
Was bleibt? Es bleibt die Wissenschaft, genauer gesagt: die empirisch genannten Sozialwissenschaften. Mit seinem Catch-all-Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ hat Wilhelm Heitmeyer der Politik und den Kirchen das Stichwort geliefert, das den kurzen Prozeß erlaubt. Wer gegen die ungeregelte Einwanderung Bedenken äußert; wer Leistungen an Gegenleistungen binden will; wer eine Überforderung des Wohlfahrtsstaates befürchtet; wer von Wirtschaftsflüchtlingen spricht, an Messerstechereien erinnert oder Hetzjagden bezweifelt, der ist geliefert. Der wird von den Fürsprechern des grenzenlosen Lebens im Handumdrehen ausgegrenzt.
Die Handreichung bezweckt Abschreckung
So etwas Prüfung zu nennen und Sorgfalt anzumahnen, ist christliche Heuchelei. Was die Handreichung bezweckt, ist ja nicht Prüfung, sondern Abschreckung; die dazugehörige Pressemitteilung wird hier deutlicher, indem sie Reichsbürger, Identitäre, NPD und AfD in einem Atemzug nennt. Die Botschaft ist klar: Unerwünschte Kandidaten sollen einsehen, daß es sich nicht lohnt, anzutreten. Wenn diese Rechnung aufgeht, bleibt alles beim alten. Über die Befähigung zum Ältestenamt muß gar nicht mehr entschieden werden, sie „entfällt“, wie es in der verschwiemelten Sprache der Handreichung heißt.
Warum in einer Kirche Mitglied bleiben, die eine solche Sprache spricht? Die sagt, was alle Welt sagt, nur etwas salbungsvoller. Die „Digitalisierung“ ruft, wenn man nach ihren Prioritäten fragt. Die ihren Mitgliedern ansinnt, der Frage nachzugehen, ob Roboter segnen können.
Bevor sie mir zumutet, mich mit der Frage zu befassen, ob Roboter auch trauen, vielleicht sogar heiraten können – Ehe für alle! –, habe ich diese Kirche verlassen.
JF 13/19