Prozeßschutzfläche heißt das Zauberwort in deutschen Nationalparks. Borkenkäfer übernehmen den Waldumbau: in der Sächsischen Schweiz, im Harz, im Bayerischen Wald, in der Eifel. Getreu dem Prinzip: „Natur Natur sein lassen“. Die menschliche Steuerung werde zurückgeschraubt, hofft Ulf Zimmermann, Leiter des Nationalparks Sächsische Schweiz. Der Borkenkäfer sei „unser größter Waldgestalter“. Wälder würden langfristig artenreicher und klimaangepaßter. „Seit Beginn der Borkenkäferkalamität hat sich die Brutdichte von Spechten vervierfacht“, schwärmt Felix Ekardt, Chef des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Sachsen, Professor für Rechtphilosophie und Initiator der „Klimaklagen“ gegen die Bundesregierung.
Die komplette Waldvogelfauna des Mittelgebirges werde in naturbelassenen Wäldern abgedeckt, sekundiert der Ornithologe Franz Leibl, bis August Direktor des Nationalparks Bayerischer Wald. Auerhuhn und Zwergschnäpper kehrten zurück. Man könne „akribisch verfolgen und festhalten, wie sich Mittelgebirgswälder ohne Zutun des Menschen auch in Zeiten des Klimawandels entwickeln und ausprägen“. Allerdings war im Sommer im Randbereich von Leibls Vogelparadies der Borkenkäfer so zahlreich, daß dieser auf einem 500 bis 1.000 Meter breiten Grenzstreifen bekämpft werden mußte, um angrenzende Privatwälder zu schützen. Bis Jahresende könnten dort 100.000 Festmeter befallen sein, 2022 waren es rund 60.000.
„Totholz ist Nahrungsquelle für zahlreiche Pilze und Insekten“
Roland Pietsch, 2021 von den damaligen Umweltministern Olaf Lies (SPD/Niedersachsen) und Claudia Dalbert (Grüne/Sachsen-Anhalt) zum Leiter des Nationalparks Harz gemacht, ist zwar promovierter Forstwissenschaftler, aber als Ex-Funktionär des Naturschutzbundes (Nabu) auch Urwaldträumer: „Wo Leben vergeht, entsteht auch Platz für Neues. Der Wald ist nicht tot. Der für viele Besucher gewöhnungsbedürftige Anblick ist nur eine kurze Zwischenstation auf dem Weg zur neuen Wildnis“, heißt es in seiner neuen Nationalparkbroschüre. „Totholz ist eine wichtige Nahrungsquelle und Lebensraum für zahlreiche Pilze, Insekten und Mikroorganismen.“ Daß aktuell 90 Prozent der Fichtenbestände in Pietschs Nationalpark abgestorben oder bald sind, solle niemand davon abhalten, „mit unseren Nationalpark-Ranger*innen und -Expert*innen auf Tour“ zu gehen.
Auch wenn sich seit „5.000 Jahren Borkenkäfer gemeinsam mit den natürlichen Fichtenwäldern im Harz-Hochwald entwickeln“, ist Deutschland nicht mehr das Barbaricum hinter dem Limes, sondern ein 84,5-Millionen-Einwohner-Staat mit hochentwickelter Forstwirtschaft. Und es ist eben nicht so, daß die Fichten nach und nach verschwinden, sondern ohne ein Eingreifen der Forstwirtschaft dann Buchen, gemischt mit Ahorn, Birken, Eschen und anderen heimischen Laubbaumarten, wachsen.
„Die vorsätzliche Opferung von Wald in dieser Größenordnung, weil man den Borkenkäfer aus ideologischen Gründen nicht bekämpft, ist eine bioethische Fehlinterpretation und eine einzige Katastrophe. Argumentativ hat der Nationalpark Harz schon lange verloren“, heißt es in einem von Wolf-Eberhard Barth, Forstdirektor und von 1994 bis 2004 erster Leiter des Nationalparks Harz, und sieben weiteren ehemaligen Forstbeamten aus Niedersachsen und Sachsen-Anhalt unterzeichneten „Brandbrief“ in der Welt. Der 500-Meter-Sicherheitsstreifen, der benachbarte Wälder vor dem Borkenkäfer schützen soll, reiche nicht aus. Daß lediglich auf diesem Streifen die Schädlinge bekämpft werden, sei „naiv und hilflos“. Borkenkäfer könnten unter günstigen Wetterlagen kilometerweit fliegen und dort ganze Landstriche befallen.
Wegen toter Bäume: Abkehr vom ideologischen Naturschutz gefordert
Aus den Überlebenden eines artenarmen Fichtenwaldes wird nicht durch Zauberhand ein artenreicher Mischwald: „Die Baum-Kinder werden die gleichen Eigenschaften wie die ihrer Eltern aufweisen und alles wird wie vor der Käferzeit.“ Neuer Wald könne nur auf Flächen entstehen, auf denen sich noch einige lebende Mutterbäume, also Samenbäume, befinden. „Auf riesigen Flächen, auf denen alle Bäume abgestorben sind, entstehen steppenartige Strukturen. Ohne Mutterbäume gibt es keine Kinder.“ Die „Käfer-Katastrophe im gesamten Harz“ sei 2006 durch die Fusion der Nationalparks Hochharz (Sachsen-Anhalt) und Harz (Niedersachsen) zum heutigen 247 Quadratkilometer großen Nationalpark ausgelöst worden.
Dies sei ein „rein politischer Coup ohne fachlichen Hintergrund“ gewesen. Denn bis dahin wurde der Borkenkäfer in Niedersachsen erfolgreich bekämpft, nach der Verlegung der Hauptverwaltung nach Wernigerode war damit Schluß. Aus ideologischen Gründen seien abgestorbene Bäume nicht herausgeschafft worden, wodurch Millionen Kubikmeter CO₂ aus dem faulenden Holz entweichen. Der Nabu, Pietschs früherer Arbeitgeber, hatte wegen des „herben Verlustes“ an Biodiversität gegen die geplante Räumung von Totholz durch die Nationalparkverwaltung geklagt und beim Verwaltungsgericht Magdeburg im November 2022 ein Entnahmeverbot von Totholz durchgesetzt.
Der „definitiv gescheiterte Nationalpark“ sollte in ein „Biosphärenreservat“ umgewandelt werden, in dem eine nachhaltige Entwicklung in ökologischer, aber auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht gefördert werde. Gefordert wird eine „Abkehr vom ideologischen Naturschutz und eine Hinwendung zum freiheitlichen Naturschutz zu vollziehen“, so die acht Forstexperten. Doch die deutschen Nationalparkverwaltungen beharren auf ihrem Ziel: Sie wollen tatsächlich einen Urwald.
JF 50/23