U96 ist ein Mythos, keine Frage. Daß es das wohl bekannteste deutsche Unterseeboot aus dem Zweiten Weltkrieg wurde, liegt vor allem an „Das Boot“ – der 1981 gedrehten legendären und für sechs Oscars nominierten Verfilmung des Bestsellers von Lothar-Günther Buchheim. Weil der Autor selbst als Marine-Kriegsberichterstatter an Bord war, gelten Film wie Romanvorlage als authentisch. Doch daß es zwischen der Wirklichkeit und der von Buchheim beanspruchten „eigentlichen Wirklichkeit“ erhebliche Unterschiede gibt, hat der Journalist Gerrit Reichert akribisch recherchiert und überaus lesenswert dargelegt.
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Im Zentrum stehen dabei die Biographien der beiden wichtigsten Protagonisten: Buchheim und Heinrich Lehmann-Willenbrock, in Buch und Film „Der Alte“. Der Eichenlaubträger war bereits im Krieg von Buchheim porträtiert worden. Der von seinen Untergebenen verehrte Lehmann-Willenbrock verkörperte den idealen militärischen Anführer. Den Krieg beendete er als Fregattenkapitän und Flottillenchef im norwegischen Bergen.
Wie er als Vorgesetzter tickte, veranschaulicht eine von Reichert erwähnte Episode: Zwei Offiziere sind in der Endphase des Kriegs als angebliche Defätisten denunziert worden. Das Standgericht unter Vorsitz des Flottillenchefs verurteilt beide zum Tod durch Erschießen. Nach Verkündung des Urteils schickt Lehmann-Willenbrock die Beisitzer aus dem Raum, läßt eine Ordonanz Cognac für sich und die Verurteilten bringen und sagt: „Meine Herren, Sie wissen, daß ich nicht anders konnte, als Sie zum Tode zu verurteilen. Aber Sie sollten auch wissen, daß sämtliche Todesurteile in Berlin unterschrieben werden müssen. Und manche Post geht von Berlin nach Bergen verloren. Auf Ihr Wohl!“
Tagebuch von Zeitzeuge entzaubert Mythen
Zugleich fördert Autor Reichert zutage, daß der sich stets als Freigeist und künstlerisches Enfant terrible inszenierende Buchheim zur Zeit des Nationalsozialismus weit mehr anpaßte als von ihm behauptet wurde. Auch die Rolle, die der zur „Staffel der bildenden Künstler“ abkommandierte Kriegsmaler in der NS-Propaganda spielte, unterscheidet sich von dem, was Buchheim über sich verbreitet hatte.
Ein großer Gewinn ist, daß Reichert die privaten Tagebücher von Friedrich Grade für seine Recherchen verwenden konnte. Grade war Leitender Ingenieur auf U 96 – im Film dargstellt von Klaus Wennemann –, und ohne den erst 2023 im Alter von 107 Jahren verstorbenen Offizier wäre es nicht möglich gewesen, Mythos und Realität des legendären Bootes voneinander zu unterscheiden. So hat es den durchdrehenden Dieselobermaschinisten Franz nie gegeben, und die Kult-Szene mit dem wilden „Bananentanz“ auf einem „rund um die Uhr horchenden Kriegsschiff schon gar nicht“.
Neues zum Schicksal von U 96 beigesteuert
Apropos Film: Reichert weiß auch Anekdotisches von den Dreharbeiten von „Das Boot“ zu berichten. Etwa, warum Regisseur Wolfgang Petersen, für den dieser Film die Eintrittskarte in die Regie-Elite Hollywoods werden sollte, die Rolle des Kriegsberichters ausgerechnet mit Herbert Grönemeyer besetzte: „Der zarte, verträumt und zurückhaltend wirkende Grönemeyer, von Heinrich Lehmann-Willenbrock späterhin als ‘Milchgesicht’ bezeichnet, ist das genaue Gegenteil des kräftigen, lautstarken Buchheim. Am Filmset wird das als bewußte Spitze gegen Lothar-Günther Buchheim kolportiert, mit dem es während der Dreharbeiten vor Ort und in der Öffentlichkeit zu zahlreichen Auseinandersetzungen gekommen ist.“
Für die nun erschienene Neuauflage hat Reichert zudem Neues zum Schicksal von U 96 beigesteuert. Bisher hieß es übereinstimmend, das ausrangierte und unbemannte Boot sei in Wilhelmshaven bei einem Bombenangriff zerstört und kurz danach auf Nimmerwiedersehen verschrottet worden. Doch nach Erscheinen der ersten Auflage seines Buches bekam der Autor Hinweise, daß das Boot anderweitig verwertet wurde. Im Kapitel „Fundsache Boot“ geht Reichert dem detektivisch nach – eine spannend zu lesende Spurensuche.
„‘Der Alte’ versagt seinem Autor die Gefolgschaft“
Am Ende ist Reicherts reichhaltig und ansprechend illustriertes Standardwerk aber auch die Geschichte zweier Männer, Lothar-Günther Buchheim und Heinrich Lehmann-Willenbrock; die sich als Kameraden im Krieg kennen und schätzen lernten, die sich gegenseitig bewunderten und Freunde wurden. Und deren Freundschaft nach 44 Jahren zerbrach – auch an der unterschiedlichen rückblickenden Sichtweise auf den U-Boot-Krieg. „‘Der Alte’ versagt seinem Autor die Gefolgschaft“, resümiert Reichert.

In einem Brief aus dem Dezember 1985 hält Lehmann-Willenbrock dem Erfolgsautor vor, dieser habe „wohl den Gipfel kompromißloser antimilitaristischer Gesinnung erreicht“, wenn er, „der selbst das Ubootsabzeichen auf seinem blauen Tuch trug, aus heutigen Erkenntnissen kein gutes Haar mehr an der Ubootführung läßt“. Die freundschaftliche Verbundenheit kündigte der „Alte“ auf. Gemeinsam bleibe ihnen aber „doch eine ungetrübte Erinnerung an viele harmonische Seetage und die Übereinstimmung über die Schönheit und Grausamkeit der See“. Drei Monate nach diesem Brief stirbt Lehmann-Willenbrock. Buchheim wird ihn um über zwei Jahrzehnte überleben.