Der Winter 1946/47 gilt als strengster Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum. In Deutschland war es der viertkälteste zwischen 1881 und 2020. Das Land war nach dem Zweiten Weltkrieg verwüstet. Insbesondere die Städte glichen Ruinenlandschaften. Bereits seit Jahresbeginn hatte sich eine Lebensmittelkrise angebahnt. Hungernde Kinder bettelten bereits seit Monaten auf den Straßen um Brot.
So litten auch die Kölner in jenem Winter unter Not und Kälte. Die Domstadt war im Weltkrieg durch alliierte Bomberangriffe und die Kämpfe am Kriegsende schwer getroffen worden. Nun suchten dort auch Vertriebene aus den Ostgebieten Zuflucht. Um an Heizmaterial zu kommen, stahlen die Menschen Kohle von den Güterzügen, die das nahegelegene Ruhrgebiet verließen.
Von der Not der Bevölkerung wußte natürlich auch der Erzbischof von Köln, Kardinal Josef Frings. An Silvester 1946 trat er in der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl vor die Gläubigen und hielt eine Predigt, die Geschichte schrieb. Der Geistliche, der seit 1945 Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz war, widmete sich den zehn Geboten. Als er zum siebten kam, „Du sollst nicht stehlen“, sprach er: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann.“
Kardinal Frings rang um die richtigen Worte
Darin zeigte Frings, daß er das Leid der Menschen anerkannte und es in der lebensbedrohlichen Situation des Hungerwinters nichts Unrechtes war, für das nackte Überleben zum Dieb zu werden. Zwar fuhr aber fort: „Aber ich glaube, daß in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“ Aber die Botschaft der Predigt des Rheinländers verbreitete sich, was die Zunahme der Kohlediebstähle von den Zügen bewies. Das ging so weit, daß das Wort „fringsen“ für kleinere Diebstähle und Mundraub Einzug in die Alltagssprache des Volkes hielt.
Daß er es sich mit der Rechtfertigung, gegen das siebte Gebot zu verstoßen, nicht leicht gemacht hatte, läßt das Manuskript der Predigt erahnen. Die handschriftliche Vorlage liegt im Historischen Archiv des Erzbistums Köln. Sie ist eng beschrieben, Streichungen und Ergänzungen machen sie kaum noch lesbar. Der Zettel zeigt, daß Frings mit sich gerungen hat, was er der Gemeinde sagen sollte. Letztlich sah er die Not des Volkes, die es zum Gesetzesbruch und Gebotsverstoß zwang, um nicht zu sterben.
Briten luden Frings vor
Der berühmte Satz brachte dem Erzbischof Ärger mit den britischen Besatzern ein, die eine Klarstellung verlangten. Frings antwortete dem Chef der Besatzungsbehörde, Regional Commissioner William Asbury, zunächst: „Ich habe nicht gedacht, daß dieser eine Satz so die bürgerliche Welt aufregen würde. Was ich sagte, ist die Lehre der katholischen Moraltheologie. Ich selbst würde mir von den Waggons die Briketts holen, wenn ich kein Heizmaterial hätte.“
Das stellte Asbury nicht zufrieden. Zeitweise sei gar erwogen worden, den Geistlichen durch die Militärpolizei abholen zu lassen. Aus Sorge vor der Reaktion der Bevölkerung verwarf man solche Gedanken jedoch wieder. Die Briten bestellten Frings zu einer Aussprache im Januar 1947 nach Düsseldorf ein. Als Asbury zur vereinbarten Zeit nicht pünktlich erschien, wartete der Kardinal einige Minuten, bevor er sich verabschiedete und wieder aufbrach. Dabei soll er seinem Chauffeur gesagt haben: „Jetzt schleunigst weg, es konnte gar nicht besser gehen!“
Damit war die Angelegenheit schließlich erledigt und hatte für Frings keine weiteren Konsequenzen.