Drähte sind irgendwie unpraktisch. Man stolpert drüber, mal sind sie zu kurz, mal brechen sie oder werden eingeklemmt. Kein Wunder, daß Drahtlos-Technik immer weiter um sich greift: Telefone, Handys, Notebooks – sie alle funktionieren schon lange ganz autark, solange Funkmast oder Basisstation in der Nähe stehen. Nur an die Steckdose müssen sie noch – und das ist furchtbar lästig. Daher träumen Ingenieure und Konsumenten davon, Strom drahtlos und kabellos zu übertragen. Die Vision scheint Realität zu werden.
So ist es dem US-Physiker Marin Soljacic gelungen, den Strom durch die Luft zu schicken. Sein Versuchsaufbau ist simpel: Im Abstand von zwei Metern hängen sich zwei große Kupferspiralen gegenüber. Durch die eine Spule fließt Wechselstrom mit einer Frequenz von etwa 10 Megahertz. Die Energie des dabei entstehenden magnetischen Nahfelds kann von der anderen Spule angezapft werden.
Das Verfahren läßt sich sehr gut mit einem Resonanzexperiment einer Opernsängerin vergleichen. Wenn diese in einem Raum einen bestimmten Ton singt, in dem Hunderte identische, aber unterschiedlich hoch mit Wasser gefüllte Weingläser stehen, dann kann ein einzelnes Glas zur Resonanz gebracht werden und zerspringen. Die anderen Gläser nehmen hingegen kaum Energie aus den akustischen Wellen auf, weil ihre Eigenfrequenz nicht zu der Schallfrequenz paßt. Das Ergebnis – für Laien fast wie Hexerei: Soljacic gelang es so, eine 60 Watt starke Glühlampe über eine Distanz von zwei Metern zum Leuchten zu bringen. Die Helligkeit der Lampe änderte sich dadurch kaum, wie bereits im Juli 2007 die Wissenschaftszeitschrift Science (Ausgabe 1143254) berichtete. Messungen zeigten, daß etwa 40 Prozent der Energie, die man in die erste Spule induzierte, die zweite erreichte.
Inzwischen hat der Physiker in einem unscheinbaren Backsteinbau bei Boston eine Firma namens Witricity gegründet und einen Prototyp entwickelt. Sender und Empfänger bestehen je aus einem Gehäuse, Antenne und einem Steuergerät. Marketing-Chef David Schatz will in naher Zukunft die Technik auf den Markt bringen. Sie soll bis zu drei Kilowatt übertragen – genug für starke Elektrogeräte, zum Beispiel Roboter, die sich frei im Raum bewegen. Kritiker von Witricity bemängeln, daß von dem Strom, den die Quelle an die Luft schickt, nur ein viel zu geringer Teil beim Empfänger ankomme. Der Rest gehe im Raum verloren. Der Chiphersteller Intel hat die Technik vor kurzem nachgebaut und ist von ihrer Funktion überzeugt.
Vermutungen, das Gerät könne Elektrosmog produzieren, widerspricht die Firma. Bei Witricity werde ein magnetisches Nahfeld erzeugt, das nicht mit Menschen reagiere, vergleichbar dem Feld einer induktiven Herdplatte. Ein Vorteil der genutzten Frequenz von 9 bis 10 Megahertz sei, so der kroatischstämmige Physiker, daß das Feld nicht tief in den menschlichen Körper eindringe. Soljacic und seine MIT-Kollegen betonen, daß der Aufenthalt in dem hochfrequenten Magnetfeld für Menschen und Tiere sicher sei. Bei den Experimenten hätten auch Kreditkarten, Handys und andere elektrische Geräte keinerlei Schaden genommen. Allerdings müßten die Wechselwirkungen des Feldes noch genauer untersucht werden, so die Wissenschaftler.
Von der drahtlosen Verbreitung elektrischer Energie träumte im Jahr 1900 schon der Elektro-Pionier Nikola Tesla. Der Erfinder des Wechselstrom-Generators war überzeugt, daß es funktionieren könnte, und probierte es aus. Er ging sogar so weit, auf Long Island vor New York einen 20 Stockwerke hohen Turm zu bauen, der als Sender dienen sollte. Irgendwann aber ging ihm das Geld aus, weil seine Finanziers nicht daran interessiert waren, Strom für alle und überall frei zur Verfügung zu stellen. Das war vor 104 Jahren – seitdem gab es kein großes Interesse mehr an dem Thema. Der Tesla Tower wurde 1917 gesprengt. Überall auf dem Globus wurden in der Folgezeit Stromkabel verlegt, und es galt als völlig unpraktikabel, Strom durch die Luft zu übertragen: Elektrizität habe gefälligst aus der Steckdose zu fließen und Drähte zu benutzen. Jetzt, in den Zeiten von akkubetriebenen Mobiltelefonen, MP3-Playern und anderen tragbaren Kleingeräten ist Teslas Idee aktueller denn je.
Drahtloser Energietransport ist in der Natur längst gang und gäbe: Die Sonne strahlt ihre Energie auch über weite Strecken ab – sie versorgt die Erde über elektromagnetische Strahlung mit Wärme. Allerdings ist das Verfahren sehr ineffizient, weil die Wellen dazu neigen, sich in alle Richtungen auszubreiten, und viel Energie an die Umgebung verlieren. Auf der Hightech-Show CES in Los Angeles, der weltgrößten Messe für Unterhaltungselektronik, zeigten Hersteller Anfang Januar nicht nur digitale Bilderrahmen, Lautsprecher und Lampen, die drahtlos mit Energie versorgt wurden, sondern auch die ersten Handys, die Strom drahtlos per Magnetfeld tanken. Man legt dabei Blackberrys, iPhone oder den Akkuschrauber einfach auf die Ladeplatte, und sofort lädt sich der jeweilige Akku auf. Die Vorführgeräte funktionieren, doch das Ende des Kabel-Kuddelmuddels ist noch weit weg – bislang fehlt ein Standard für Drahtlos-Strom.
Die Zukunftsträume: In Cafés und Flughäfen wird es Elektrizitäts-Hotspots geben, so wie es dort heute Internet-Hotspots gibt. Man kann zudem bald Tische kaufen, die jedes Gerät aufladen, das man darauf plaziert. Und wenn jeder Raum kabellosen Strom aussenden würde, wüßte man, daß sich das Mobiltelefon auflädt, sobald man den Raum betritt, sogar wenn es noch in der Tasche steckt. Die lästigen Kabel und Steckdosen – vielleicht sind sie bald obsolet.
Foto: Nikola Tesla und die Idee kabelloser Stromübertragung: Chiphersteller Intel ist von Funktion überzeugt