Wenn die ARD ihre schon 2004 produzierte dreiteilige Doku-Reihe „Der Kommunismus – Geschichte einer Illusion“ mit Wochenabstand zu mitternächtlicher Stunde plaziert, dann spricht das nicht für Priorität, die die Programmverantwortlichen dem Thema zubilligen. Eine ähnlich aufwendige Dokumentation etwa über Hitlers Schäferhunde oder dessen Malkünste könnte man vermutlich im Hauptabendprogramm bewundern. Die Autoren Peter Glotz und Christian Weisenborn entschieden sich für die Historiker-Sicht, namhafte Kommunismus-Experten kommen zu Wort. Einen der wichtigsten allerdings, Konrad Löw, vermißt man schmerzlich. Betroffene und Opfer als Zeitzeugen bleiben bei dieser Konzeption weitgehend ausgeklammert. Der Zuschauer erlebt eine Geschichtsrevue der besonderen Art. Schon vor den Nationalsozialisten hatten die Bolschewisten das Medium Film als Propaganda-Instrument zu nutzen gewußt. Insofern sind wichtige und beeindruckende Aufnahmen erhalten geblieben. Selbst Fälschungen sind aussagekräftig. Dokumentaraufnahmen zeigen – hier fokussiert vor allem auf die Sowjetunion – die kommunistische Physio- und Psychognomie von der sogenannten Großen Sozialistischen Oktoberrevolution 1917 bis zur Erosion des Roten Reiches. Beides kommt zumeist daher wie das ultimative Menschheitsglück, Bilder mit der Fratze des Gulag haben Seltenheitswert. Die „heilige Kuh“ Marxismus bleibt ungeschlachtet Der in Wahrheit unspektakuläre Petersburger Putsch der Bolschewiki unter Führung Trotzkis wird von Regisseur Sergej Eisenstein nachträglich als weltbewegendes Ereignis unter Lenins Führung in Szene gesetzt („Oktober“, 1928). Der oberste Bolschewik hielt sich zu diesem Zeitpunkt zwar gar nicht in Rußland auf, aber die wirkungsmächtigen Bilder Eisensteins haben Generationen beeindruckt, wurden für bare Münze genommen und haben einen Mythos begründet. Nach Wolfgang Leonhards Schilderung blieb der Aufstand zunächst fast unbemerkt, gleichwohl nahm das Unheil seinen Lauf. Eisenstein hat übrigens von der ernsthaft geplanten Verfilmung der Marx-Schrift „Das Kapital“ in „Essay-Form“ Abstand genommen. Glotz und Weisenborn versäumen es leider, die Charaktere zu vertiefen, die auf der Basis einer menschenverachtenden Ideologie nach ganz oben gelangten: Lenin, eiskalt und mit füchsischer Schläue ausgestattet; Stalin, brutal und paranoid veranlagt; Ulbricht, der dumpfe Politbürokrat. Gut arbeiten die Autoren einige Grundprämissen der Kommunisten heraus, wie zum Beispiel diese: Die Massen wissen nicht, was gut für sie ist, eine Elite, die die wissenschaftliche Basis, den Marxismus, verinnerlicht hat, muß für sie das – kommunistische! – Himmelreich errichten. Bekanntlich kam schon bald nach der Machtübernahme eine weitere hinzu: Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein. Gewalt und Lügen sind schon bei Marx angelegt. Da genügt es eben nicht, wenn dessen Schädel im Vorspann rotiert. Man fragt sich, warum im Kontext einer solchen Untersuchung diese „heilige Kuh“ nicht endlich geschlachtet wird. Der Grund kann wohl nicht allein die Scheu vor ein paar überfälligen Straßenumbenennungen oder Furcht vor Protesten einer Sahra Wagenknecht sein! Er wird erst im dritten Teil deutlich. Ein weiterer wichtiger Aspekt: Lenins Haß und der Rote Terror von Dscherschinskis Tscheka richtete sich nicht in erster Linie gegen die ursprünglichen Feinde, die Kapitalisten, sondern gegen Menschewiki und Liberale. Sie wurden erbarmungslos verfolgt. Thälmann und seine KPD übernahmen die Feindschaft gegen die „Sozialfaschisten“ der SPD in die Weimarer Republik. Selten, aber eindrucksvoll wirft die Dokumentation Schlaglichter auf die revolutionären Ereignisse in Deutschland. Hervorgehoben sei eine Tonbandaufnahme, in der Philipp Scheidemann die Ereignisse vom 9. November 1918 reflektiert. Leidenschaftlich hatte er sich gegen eine „bolschewistische Schreckensherrschaft“, wie sie Liebknecht und Luxemburg anstrebten, gewandt, die Deutsche Republik ausgerufen und war den aufständischen Spartakus-Kämpfern, die das Blutvergießen zu verantwort hatten, um zwei Stunden zuvorgekommen. Prononciert kommen Historiker wie Michael Stürmer, Hermann Weber, Norman Birnbaum und Timothy Garton Ash zu Wort. Warum der letzte KGB-Chef Wladimir Krjuschkow unwidersprochen Phrasen dergestalt von sich geben darf, daß die Kommunisten die Bevölkerung zu „hohen humanistische Idealen“ erzogen, das Analphabetentum beseitigt und die Industrialisierung vorangetrieben hätten, bleibt fragwürdig. Auch wenn die letzten beiden Punkte nicht unbedingt falsch sind, hätte eine bürgerliche Ordnung auch in Rußland einen gesellschaftlichen Fortschritt ganz sicher ohne Millionen Opfer bewerkstelligen können. Ideengeschichtlich relevant versucht die Dokumentation eine Erklärung, warum nicht wenige westliche Intellektuelle auf die Potemkinschen Dörfer des Sowjetreiches hereingefallen sind und noch die grauenvollen Säuberungen der dreißiger Jahre rechtfertigten, denen selbst siebzig Prozent der ZK-Mitglieder zum Opfer fielen. Stalins verlogenes Postulat von der „absoluten Gleichheit“ des zu „erschaffenden neuen sozialistischen Menschen“ faszinierte in den zwanziger und dreißiger Jahren viele, die einen Ausweg aus Krisen und Verwerfungen durch Kriege suchten. Die Wertesysteme Europas waren ins Wanken geraten, Utopien hatten Hochkonjunktur. Egon Bahr meint, diese Intellektuellen seien zwar intelligent, aber nicht klug gewesen. Vor allem aber waren sie ignorant. Aus Zeitgründen müssen Zweiter Weltkrieg, die Aufstände in der DDR, Ungarn und Polen im Schweinsgalopp abgehandelt werden. Das führt zwangsläufig zu Verkürzungen. So behauptet Valentin Falin, daß NKWD-Chef Lawrenti Berija die Schuld am Volksaufstand vom 17. Juni in der DDR in die Schuhe geschoben und er deshalb liquidiert wurde. Chruschtschow, seit 1939 im Politbüro und damit Mittäter, verfrachtet Stalin 1956 mit seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag aus dem Mausoleum am Roten Platz an die Kremlmauer, für diesen Ehrenplatz reicht es allemal noch. Seitdem führt Lenin rosarot illuminiert ein nach wie vor vielbesuchtes Singledasein – beredtes Zeugnis für die Abwesenheit von konsequenter Geschichtsaufarbeitung in Rußland. Die Lügen des Systems waren 1956 inzwischen schon so verkrustet, daß der Text von Chruschtschows halbherziger Abrechnung, die vor allem auf den Personenkult um Stalin abhob, dem Volk nicht zugemutet wird. Die sich zuspitzende Konfrontation der Blöcke ( Mauerbau, Kubakrise) wird gut bebildert, deren Ursachen aber kaum untersucht. Vielmehr wird der Eindruck erweckt, hier handelte es sich um eine Auseinandersetzung gleichermaßen legitimer und legitimierter Systeme. Keine der Führungscliquen des Ostblocks war aus freien Wahlen hervorgegangen. Deren Hybris und Fehleinschätzungen – insbesondere die Chruschtschows – brachten die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe. Der Oxforder Historiker Ash fragt sich, warum die Studentenunruhen – speziell in West-Berlin, eingeschlossen von der DDR – so marxistisch orientiert sein konnten. Diesmal fiel man auf die Potemkinschen Dörfer der Ideologie herein. Antikommunisten von vor 1989 kommen nicht zu Wort Ob den Kremlherren nach Breschnew tatsächlich der „wahre Glauben“ in Zynismus umschlug und die „Ideologie als Disziplinierungsinstrument“ zweitrangig wurde oder ob diese Einschätzung gewissen Konvergenz-Träumen geschuldet ist, sei dahingestellt. Egon Bahr sonnt sich in dem Licht, das er sich selbst anzündet. Wo ist sein Wandel durch Annäherung in Anbiederung umgeschlagen? Diese Frage sowie die nach dem berüchtigten SPD/SED-Papier von 1987 bleibt ausgespart. Speziell im dritten Teil ist eindeutig eine Geschichtsinterpretation aus SPD-Sicht zu registrieren; leidige Geschichtspolitik statt objektive Geschichtswissenschaft. Gegner der Ostpolitik kommen nicht zu Wort. Sie waren es, die immer wieder die Menschenrechtsverletzungen sowie Verfolgung von Dissidenten im Ostblock auf die Tagesordnung setzten und dafür als „Entspannungsfeinde“ Prügel bezogen. Was den Umgang mit Kommunisten betrifft, hat die deutsche Sozialdemokratie aus eigener leidvoller Geschichte wenig gelernt. Gemeinsame Wurzeln bei Marx verhindern bis heute eine konsequente Gegnerschaft zu den Kommunisten. Die daraus resultierende ideologische Virulenz bereitete bei Lichte besehen auch den Humus, auf dem die PDS gedeiht und durch den die fossilen Schergen des MfS derzeit wieder hervorzukriechen wagen. Die Akzente einer solchen Dokumentation setzen Filmemacher am Schneidetisch. Die mit einiger Sicherheit vorhandenen Bemerkungen Helmut Schmidts zur kommunistischen Ideologie beispielsweise dürften von großem Interesse sein, wurden aber nicht eingeschnitten. Wie richtig festgestellt wird, kam mit Gorbatschow erstmalig ein Parteichef an die Macht, der nicht wie seine Vorgänger um der Ideologie willen über Leichen ging. Es half jedoch alles nichts, erst recht nicht seine angestrebte Rückkehr zu den „wahren Idealen des Kommunismus“, der angeblich „die Demokratie wie die Luft zum Atmen braucht“, was Bahr in die Nähe einer Sozialdemokratisierung zu rücken versucht. Auch seine Glasnost und Perestroika konnte der Agonie des Sowjet- Systems nicht Einhalt gebieten. Reagans entschiedener Antikommunismus und seine „Totrüstungsstrategie“ haben die Angelegenheit entschieden. Womöglich waren der Papstbesuch 1979 in Polen und dessen Folgen (Solidarnosc) der Anfang vom Ende des Kommunismus in Europa – die Neue Ostpolitik spielte mit Sicherheit nicht die Rolle, die Egon Bahr ihr gern angedeihen lassen möchte. Ein weiteres Manko: Völlig ausgeklammert bleibt der Kirchenkampf der Kommunisten. Ein eklatantes Versäumnis, nicht allein weil auch er unzählige Opfer forderte, sondern weil damit gezielt Kultur ausgerottet wurde. Religion als gesellschaftlicher Grundpfeiler Europas stellte eine Herausforderung für die Quasi-Religion Kommunismus dar. Glaube und Ethik diffamierten und diskreditierten schon Marx und Engels. Der ideelle Schaden – für ganz Europa – dürfte irreparabel sein. Die Autoren entlassen den Zuschauer mit der Frage: „Ist der Kapitalismus nun der ewige Sieger oder hat der Kommunismus noch eine Zukunft ?“ Terminologisch greift man mit dieser Gegenüberstellung in die Mottenkiste des Marxismus. Nicht die offene freie bürgerliche Gesellschaft wird einem verlogenen Mythos gegenübergestellt, sondern es wird sogar unterschwellig eine fatale Option in den Raum gestellt. Dabei hätte die kommunistische Ideologie tausendfach den Exitus verdient. Doch sie führt in China, Nordkorea und Kuba noch ihr Unwesen und könnte durchaus bei nicht unwahrscheinlichen sozialen Verwerfungen in unserer dem Diktat der Zivilreligion unterworfenen Welt die Massen im neuen Gewand wieder infizieren. Die Kommunismus-Dokumentation der ARD kann lediglich zur Teilimmunisierung beitragen. Weder Rattenfänger noch menschliche Dummheit sind ausrottbar, und vom antitotalitären Konsens hat sich bekanntlich das politische Establishment Deutschlands längst verabschiedet.