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„Sergej Slutsch weiß darauf keine befriedigende Antwort“

„Sergej Slutsch weiß darauf keine befriedigende Antwort“

„Sergej Slutsch weiß darauf keine befriedigende Antwort“

 

„Sergej Slutsch weiß darauf keine befriedigende Antwort“

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Sergej Slutsch versucht in seinem Beitrag „Stalins ‚Kriegszenario‘ 1939: Eine Rede, die es nie gab“ (Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 4/2004) den Nachweis zu führen, daß es sich bei der vermeintlichen Rede vom 19. August 1939 um ein „Machwerk“ der Agentur HAVAS handle; diese Rede sei niemals gehalten worden, und Stalin habe sie am 28. November 1939 unter großer Entrüstung als Fälschung bezeichnet; der französische Text sei später in den Aktenbestand des Kriegsministeriums der Vichy-Regierung gelangt. Angeblich soll das russische Original im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation liegen, was aber offiziell dementiert wurde. Diese vermeintliche Rede habe jedoch eine unheilvolle Wirkung bis zur Gegenwart entfaltet, da eine Minderheit von Publizisten und Historikern sie als ein „Schlüsseldokument“ für die Entstehung des Zweiten Weltkriegs betrachte. Stalin erwies sich als folgsamer Schüler Machiavellis Slutsch kann durchaus glaubwürdig aufzeigen, daß die französische Version des Textes möglicherweise bereits als Falsifikat über Umwege im Archiv des Kriegsministeriums des Vichy-Regimes gelandet ist und daß später noch Anmerkungen zum Text erfolgt sind. Seine Gedankengänge klingen logisch und überzeugend. Er kann aber nicht erklären, wie die französische Version in die damals in Genf erscheinende Zeit­schrift Revue de droit international (Ausgabe Juli-September 1939) gelangt und wann diese veröffentlicht worden ist oder ob hier gar eine spätere Manipulation von dritter Seite vorliegt. Nimmt man mit gutem Grund an, daß diese Ausgabe spätestens im Septem­ber 1939 erschienen ist, wie erklärt sich dann die sehr späte Reaktion Stalins Ende November? Oder waren bereits im September Fälscher am Werk? Slutsch weiß darauf keine befriedigende Antwort. Des weiteren kann der Autor nicht erklären, wie dieses Dokument aus einem Archiv der Vichy-Regierung in einen Beutefonds der Sowjetunion gelangt sein könnte. Es steht fest, daß das besagte Dokument erst 1994 in einem Sonderarchiv in Moskau aufgefunden worden ist. Bekanntlich hat der militärische Nachrichtendienst der Roten Armee entsprechend geschulte Offiziere in den Frontverbänden eingesetzt. Diese hatten den Auftrag, nicht nur Kulturschätze „sicherzustellen“, wie etwa die berühmte Gemälde­galerie in Dresden, sie waren genauso hinter deutschen Aktenbeständen her, die später als Waffen im Kalten Krieg dienen sollten. Bekanntlich benutzte der spätere Geheimdienst KGB derartige Beutedokumente, um sie entsprechend „präpariert“ an geeigneten Stellen „entdecken“ zu lassen. Es liegt also sehr nahe, daß eine Version des französischen Redetextes in den Besitz einer deut­schen Regierungsbehörde, wahrscheinlich des Auswärtigen Amtes, gelangt ist; es liegt des weiteren sehr nahe, daß dieser französische Redetext gegen Kriegsende ausgela­gert und im Zuge des Vordringens der Roten Armee 1945 nach Westen von Offizie­ren des Nachrichtendienstes aufgefunden und als Beutedokument in die Zentrale Moskau verbracht worden ist. Dieser Redetext wurde, wie auch der Autor vermerkt, von Tatjana Buschujeva entdeckt und im Rahmen einer Ausein­andersetzung mit den Büchern von Viktor Suworow in der Zeitschrift Novij Mir 12/1994 in einer Rückübersetzung ins Russische veröffentlicht. Ob man allerdings die Ausführungen von Buschujeva als „hymnische Rezension“ bezeichnen kann, wie Slutsch ironisch bemerkt, sei dem jeweiligen Geschmack des nachprüfenden Historikers überlassen. Nun liegt seit kurzer Zeit eine deutsche Fassung dieser Rede vor, die Richard Raack („Stalin’s Drive to the West 1938-1941“, Stanford/Kalifornien 1995) in Berlin aufgefunden hat. Dieser Text trägt die Marginalien des Botschafters in Moskau, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, und stimmt im wesentlichen mit der – wenn man sie so nennen will – „Fälscherversion“ überein. Die von Buschujeva publizierte Rede weicht jedoch in manchen Passagen erheblich von der „Fälscherversion“ ab; es handelt sich meist um Einschübe, die zwar den Grundtenor nicht verändern, aber andere Akzente setzen. Es kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß die Abweichungen durch die Rück- überset­zung ins Russische entstanden sind. Warum sollte man nicht von der Erklärung ausgehen, daß man es mit drei Versionen eines Textes zu tun hat, von denen mindestens eine wahrscheinlich manipuliert worden ist, seien die Täter nun Leute des französischen Sicherheitsdienstes oder von HAVAS gewesen. Es muß sich auch nicht um eine Rede Stalins vor dem Politbüro handeln, denn auch ein anderer, intimer Zuhörerkreis kommt in Betracht. Im übrigen sollte die Forschung eine Fährte verfolgen, die vom ehemaligen Außen­minister Maxim Litvinov ausgeht, der im Frühjahr 1939 durch Molotov ersetzt worden ist. Litvinov war ein Anhänger eines Bündnisses mit den Westmächten und lehnte den Kurs, der zum Hitler-Stalin-Pakt führte, strikt ab. Wäre es nicht denkbar, daß es Litvinov oder einer seiner Helfershelfer gewesen ist, der den Text der Rede fabriziert und in Umlauf gebracht hat? Selbst wenn man davon ausgeht, daß Stalin die umstrittene Rede niemals gehalten hat, so stimmen doch die Grundgedanken im wesentlichen mit den Äußerungen Stalins überein, die dieser am 7. September 1939, also kurz nach Kriegsbeginn, gegenüber Georgi Dimitrov getan hat. Natürlich liegt keine „vollkommene“ Übereinstimmung vor, wie Slutsch den „Revisionisten“ belehrend vorhält; natürlich können diese Äußerun­gen nicht die Authentizität der Stalin-Rede beweisen. Dennoch bezeugen sie genau den Geist jener Politik, die Stalin vor und nach Kriegsbeginn spätestens bis zum 22. Juni 1941 betrieben hat. Immerhin lautet darin ein Kernsatz: „Der Arbeiterklasse muß gesagt werden: Der Krieg geht um die Weltherrschaft.“ Ob nun der Text der Rede echt oder gefälscht ist, Stalin erwies sich als blendender Schüler Machiavellis. Aber welcher der beteiligten Machthaber handelte damals nicht im Sinne Machiavellis? Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrt an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg Foto: Sachbearbeiter der deutschen Delegation handeln mit Molotows Vertrauten die Grenze zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich aus, August 1939: „Der Krieg geht um die Weltherrschaft“

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