Anfang 1945 war ich nach glücklich überstandener Frontbewährung als Fahnenjunker der Panzerjäger in die Waffenschule Milowitz im Protektorat Böhmen und Mähren gekommen, wo ich die letzte Phase meiner Offiziersausbildung leisten sollte. Es lief aber kein Lehrgang mehr. Statt dessen wurden sogenannte Panzerjagdkommandos gebildet: ein Feldwebel, zwei Unteroffiziere und zehn Mann, alle mit Fahrrädern, an die je zwei Panzerfäuste gehängt wurden, die Unteroffiziere mit Maschinenpistolen, die anderen mit Sturmgewehren. So sollten wir die Sowjetarmee besiegen. Gott sei Dank gab es keine Möglichkeit mehr, diese Himmelfahrtskommandos einzusetzen. Statt der Jagd auf Russenpanzer erhielten wir den Befehl, nach Prag zu marschieren, um im Hiberner Bahnhof drei Lazarettzüge aus den Händen kommunistischer Aufständischer zu befreien und ihre Weiterfahrt nach Deutschland zu ermöglichen. Bemerkenswerterweise rief unser Kommandeur vor Prag seine Unterführer zusammen, zu denen ich als Unteroffizier gehörte, und fragte uns, ob wir bereit seien, den Angriff am folgenden Tag, dem 8. Mai 1945, durchzuführen. Alle stimmten dafür, die verwundeten Kameraden zu befreien. Am 8. Mai um 4.30 Uhr begannen wir unseren Angriff auf den Hiberner Bahnhof, vermutlich einen der letzten Angriffe, den die Deutsche Wehrmacht durchführte. Ich gehörte mit meinen Kameraden zur Angriffsspitze. Neben uns fuhr ein Hetzer, ein Jagdpanzer mit einer 7,5 Panzerabwehrkanone, der im Protektorat gebaut worden war. Dahinter kamen weitere Jagdpanzer und wohlbewaffnete Kameraden. Ich hielt das Ganze für einen abenteuerlichen Spaziergang, bei dem nichts Ernstliches geschehen würde. Plötzlich krachte eine Panzerfaust auf den Hetzer, der ein paar Schritte vor uns stehenblieb. Seine Besatzung riß in Panik die Luken auf und floh im Schutz des Panzers nach hinten. Ich schlug schnell mit dem Holzschaft meiner Maschinenpistole die große Scheibe eines leerstehenden Geschäftes ein und ging mit einem jungen Mann meines Jagdkommandos darin in Deckung. Man hörte Schüsse. Sie trafen unsere Kameraden, die auf der anderen Seite der Straße gegangen waren. Es waren etwa acht offensichtlich tödlich getroffen. Besonders wütend machte mich, daß der Körper des am weitesten vorn liegenden Soldaten immer wieder hochzuckte, weil offenbar immer wieder in ihn hineingeschossen wurde. Verzweifelt spähte ich aus meiner Deckung nach den Heckenschützen. Ich konnte sie nicht entdecken. Wahrscheinlich hatten sie auf unsere Seite vom Bahnhofsgelände aus sicherer Deckung geschossen. Aus dem Hetzer war eine kleine Rauchfahne hochgestiegen, weil die Hohlladung der Panzerfaust die Panzerung durchgeschweißt, aber nichts getroffen hatte, was brennen oder explodieren konnte. Trotzdem hielt ich den Panzer für eine gefährliche Nachbarschaft. Da in unserer Straße offenbar niemand den Angriff fortsetzen wollte, befahl ich meinen jungen Kameraden, mit mir den Rückzug anzutreten. Von der hinteren Seite des Bahnhofs hatten andere Kameraden das Bahnhofsgelände besetzt. Die Lazarettzüge waren befreit. Die Führung unserer Truppe war völlig intakt. Ich war sicher, daß alles geschehen würde, um die Lazarettzüge nach Deutschland weiterfahren zu lassen. Auch um unsere toten Kameraden hatte sich der Troß gekümmert. Mittags wurde die Kapitulation der Wehrmacht bekannt. Die Führung riet uns, nach Pilsen zu den Amerikanern zu fahren. Wir waren aus der Wehrmacht entlassen. Mit einer Gruppe meiner Kameraden schlief ich in der Nacht in einem Straßengraben vor dem Hradschin. Am 10. Mai gelangte ich in der Nähe von Pilsen an die amerikanische vorderste Linie. Nach drei Wochen Hungerlager fuhren uns die Amerikaner auf Lastwagen nach Hause, in meinem Falle nach Thüringen zu Freunden meiner Eltern, die dorthin mit Schülern ihres Gymnasiums vor den Luftangriffen auf Berlin geflohen waren. Als die Russen nach Thüringen gekommen waren, gelang mir die Reise in den amerikanischen Sektor Berlins zu meiner Mutter. Mein Vater war 1944 in Berlin einem Luftangriff zum Opfer gefallen. Erst jetzt, im Juli 1945, war für mich der Krieg richtig zu Ende. Es begann eine Zeit, in der ich in Berlin Hungern und Frieren kennenlernte und dachte: „Hoffentlich werde ich bald einmal genug Brot oder Kartoffeln essen können! Eins von beiden würde schon genügen.“ Gert-Wilhelm Seifert, Berlin
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