Für die These, daß Alkoholismus – wenigstens zum Teil – erblich sei, wäre man vor 15 Jahren noch intellektuell gesteinigt worden. Heute wundert man sich über gar nichts mehr. In der Zeitschrift Alcoholism: Clinical and Experimental Research Nr. 28 (1) (2004) beschreiben David Sinclair und seine Kollegen vom finnischen Nationalinstitut für öffentliche Gesundheit einen Versuch mit zwei Gruppen von Versuchsratten. Die einen haben eine angezüchtete Vorliebe für Alkohol, die anderen eine entsprechende Abneigung. Dabei handelt es sich um konventionelle Zucht, nicht um Genmanipulation. Wie die Disposition zum Alkoholismus genetisch im einzelnen zustande kommt, weiß man noch nicht. Daß es sie gibt, zeigt bereits der Blick in sogenannte „Trinkerfamilien“. Doch bisher lautete die politisch korrekte Begründung für solche Zusammenhänge: Einfluß des schlechten Milieus und einer vernachlässigten Erziehung. Bei Versuchstieren lassen sich solche Einflüsse ausschalten. Ratten, die gleich gehalten werden, zeigen eine ganz unterschiedliche Reaktion auf Alkohol – und diese vererbt sich offenkundig weiter. Es geht also nicht um jene Schäden, die der Embryo durch übermäßigen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft erleiden kann. Auch wenn die Mutter bereits zehn Jahre „trocken“ ist, bleibt sie Trägerin eines hohen Risikofaktors. Das Kind erbt nicht den Alkoholismus selbst, sondern bloß die Ansprechbarkeit auf dieses Gift. Manchen macht es von Anfang an keinen Spaß zu trinken – der Alkohol entfaltet in ihrem Körper keine so befriedigende Wirkung. Solche Menschen haben es relativ leicht, dem Trinken zu „widerstehen“. Wieder wird eine Bastion des freien Willens gebrochen. Denn wer nicht zum Trinken neigt, ist darum noch lange kein besserer Mensch. Vielleicht liegt ihm eher das Spielen oder das Schnupfen im Blut bzw. in den Genen. Am besten haben es jene getroffen, die Enttäuschungen und Langeweile mit produktiver Arbeit bekämpfen können. Von moralischer Überlegenheit zu reden, wäre jedoch falsch. Wieso aber haben sich negative Eigenschaften wie die „Trinkfestigkeit“ im Laufe der Evolution gebildet und gehalten? Von der natürlichen Selektion erwarten wir schließlich, daß sie alles Schädliche und Schwächende eliminiert. Wie falsch und vermenschlichend diese Erwartung ist, zeigt sich schon am Blinddarm. Trotz großer Nachteile verschwand er nicht, weil unterhalb einer gewissen Größe die Entzündungsgefahr so groß ist, daß kaum ein Betroffener das fortpflanzungsfähige Alter erreicht. So erwiesen sich die Bacchus-Ratten als gesünder und langlebiger als ihre nüchternen Artgenossen. Dies ist keine Heilwirkung des Alkohols, der nur kurzzeitig verabreicht wurde, sondern spricht für eine Doppelfunktion der betreffenden Gene. Abschalten könnte sich in diesem Fall schwer rächen.