Ein Jahr vor dem Mauerfall erschien in deutscher Übersetzung ein Buch, das so recht zur bundesrepublikanischen Ideologie von der Hoffnung auf die wiedervereinigte Nation als „Lebenslüge“ zu passen schien: Benedict Andersons zuerst 1983 in London publizierten Reflexionen über „Die Erfindung der Nation“. Ein höchst einflußreiches Werk, wie sich zeigen sollte, eine Geschichtstheorie des Postmodernismus. Nach Anderson, 1936 in China geboren und heute Politikwissenschaftler an der Cornell Universität nahe New York, sowie seinen bald sich einstellenden zahlreichen Nachahmern ist „Nation“ nichts weiter als eine Fiktion, eine von vielen möglichen Deutungen der Vergangenheit, die einen Kosmos von Gedächtnissplittern zu einer „Erzählung“ vereinheitlicht. Es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, um aus einem solchem Angebot zur „Dekonstruktion“ nationaler Identität multikulturelle Verwendungsfähigkeit herauszulesen. Unter US-Historikern und Literaturwissenschaftlern ist diese multikulturalistische Brauchbarkeit natürlich auch sogleich erkannt worden. Dekonstruktion hat auch europäischen Diskurs erobert Im Laufe eines Jahrzehnts haben die postmodernen Dekonstruktivisten in geisteswissenschaftlichen Disziplinen in einer Weise die Deutungshoheit erobert, daß sich ihre Gegner gezwungen sahen, 1998 mit der „Historical Society“ eine Abwehrorganisation zu gründen, wo man sich seitdem bemüht, die „Balkanisierung des intellektuellen Lebens“, der Auflösung der Geschichte in die beliebige Vielfalt individueller, oft jedoch von den Identitätsbedürfnissen der „Minderheiten“ (Frauen, Schwarze, Einwanderer) her geprägten Sichtweise Einhalt zu gebieten. Auf diese Tendenzen geschichtswissenschaftlicher Entnationalisierung, die mittlerweile auch im europäischen Diskurs das „Identitätschaos“ vergrößern halfen, macht der Tübinger Historiker Dieter Langewiesche aufmerksam, um Andersons wirkungskräftige These von der Nation als „Artefakt“ zu überprüfen (Historische Zeitschrift, Band 277/03). Langewiesche gesteht Anderson zu, daß es sich bei der Nation um eine „vorgestellte“ Gemeinschaft handelt, daß sie kein überzeitliches, „ewiges“ Substrat ist, sondern eine Ordnungsidee, die auf konkrete historische Lagen hin entworfen wurde, viele Menschen überzeugt hat, deshalb sich in Verhaltungsregeln, Verfassungen, Symbolen verfestigen konnte. Die Nation – ein Orientierungsmuster, ein kulturelles Produkt: das sei die „schlichte Botschaft“ einer Formel, die seit Andersons Veröffentlichung „Weltkarriere“ gemacht habe. Dabei weist Langewiesche zu Recht darauf hin, in welchem Umfang die ältere Nationalismustheorie, etwa Eugen Lembergs Anfang der sechziger Jahre veröffentlichten und heute noch lesbaren Bände aus Rowohlts Deutscher Enzyklopädie oder gar Heinz O. Zieglers „Die moderne Nation“ von 1931, den Erfindungscharakter des Nationalen thematisierte. Andersons Erfolg gerade unter deutschen Historikern sei also nicht zuletzt eine Folge des Verlustes der eigenen Tradition. Wäre man sich ihrer bewußt, hätte man Andersons „Artefakt“-These eher als „langweilig altbacken“, als Banalität zur Kenntnis nehmen dürfen. Ihre „gegenwärtige Hochkonjunktur auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Öffentlichkeit gründet vor allem im Vergessen früherer Einsichten“. Identität aus dem Reservoir des Vorgegebenen Aber abgesehen davon glaubt Langewiesche, daß es auch mit der Beliebigkeit der „Erfindung“ nicht so weit her ist, wie die Rede über „Geschichten von Geschichte“ suggeriert, die die Nation als Schöpfung böser weißer Männer zum Zwecke kultureller Homogenisierung denunziert. Er verweist dafür auf zwei Theoretiker des Nationalismus, Ernest Renan und Elias Canetti, deren Arbeiten bereits die Grenzen der „gesellschaftlichen Konstruktion“ des Nationalen aufzeigen. Renan – mit seinem Essay „Was ist eine Nation?“ von 1882 und der klassisch gewordenen Antwort, eine Nation sei ein „Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt“ – werde gemeinhin nur als Kronzeuge für das westliche Modell der Staatsbürgernation als Willensgemeinschaft wahrgenommen. Unterschlagen werde, wie Renan dem Gestaltungsspielraum dieser Willensgemeinschaft „klare Grenzen“ ziehe. Die von ihm projektierte europäische Willensgemeinschaft könne sich, wie dieser französische Religionswissenschaftler mit prophetischem Weitblick erkannte, in Konkurrenz zur östlichen Welt (Rußland), zu den USA und dem Islamismus nämlich nur behaupten, wenn sie sich als „Machtgemeinschaft“ verstehe. Sein Europa sei eine „Machterhaltungsunion“, und dies sei keine willkürliche „Erfindung“ , sondern eine lagebedingte Antwort auf konkrete Herausforderungen. Ebenso habe Canetti gezeigt, wie Völker nicht „freischaffend“ über ihre Wertmuster und die daraus geformten Symbole disponieren. Der „Deutungskorridor“, der „Erfindern“ hier offenstehe, sei extrem schmal. So schöpfe das englische Massensymbol „das Meer“ ebenso wie das holländisches des „Deiches“ oder das französische der „Revolution“ eher aus dem „Reservoir des Vorgegebenen“. Es werde hier mehr aufgefunden als erfunden. Das Massensymbol der 1871 geschaffenen deutschen Nation sei „das Heer“. Aus ihm sei die Einheit der Nation, die „Kriegsgeburt“ des Reiches hervorgegangen. Die in Versailles 1919 diktierte Reduktion auf eine kleine Berufsarmee hätten die Deutschen darum wie das „Verbot einer Religion“ empfunden. Erst Adolf Hitlers Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht habe die Deutschen „mit ihrem nationalen Selbstverständnis“ versöhnt. Nach 1945 findet ein Austausch der Symbole statt Das Heer, so Langewiesche in einer ebenso unbeabsichtigten wie flüchtigen Bestätigung von Andersons Theorem, hätten die Deutschen nach 1945 als Symbol verabschiedet, als sie mit diesem Zentralwert auch ihren restlichen Wertehaushalt entsorgten. Auf diesem bundesrepublikanischen, offenbar „singulären“ Sonderweg des kompletten Austausches von Symbolen, sei Andersons These von der „Erfindung der Nation“, die sich mit neuen Symbole neu erschaffe, vielleicht „im strengen Sinne angemessen“. Dafür gebe es in der deutschen Geschichte offenbar kein Beispiel, denn 1871, als mit einer jahrhundertealten föderalen Tradition zugunsten des Einheitsstaats gebrochen wurde, kam es gerade nicht zu einer völligen Neuschöpfung, da das Neue – wie in den Gründungsmythen aller modernen Nationen – als Wiederkehr oder Vollendung des Alten präsentiert wurde. Einerseits hätten die historiographischen Apologeten der kleindeutschen Lösung zu diesem Zweck die Geschichte Preußens als Entwicklung des „staatlicher Kristallisationkerns“ dargestellt, so daß Friedrich der Große in Hubertusburg schon eine Etappe auf dem Weg zur Kaiserkrönung am 18. Januar 1871 zurückgelegt hatte. Andererseits habe eine bis auf die Germanen zurückgeführte „Kontinuitätskonstruktion“ dafür gesorgt, eine nationale Tradition zu stiften, die eben deshalb keine „Erfindung“ war, weil sie fest „in einem historischen Zwangsgehäuse verankert“ gewesen sei und das Neue allein aus dem „Fundus der Vergangenheit holte.
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