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Pieck kannte keine Gnade

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Cato, Palmer, Exklusiv

Der vergilbte Brief enthält die letzten Lebenszeichen seines Vaters. Gerhard Muras, beheimatet in Obergebra nahe Nordhausen in Thüringen, fällt es auch nach über vier Jahrzehnten noch immer schwer zu lesen, was der todgeweihte Mann am 22. Juni 1952 Frau und Kindern schrieb: „Durch einen schweren Schicksalsschlag sind wir alle seelisch sehr schwer getroffen. Was das Urteil angeht, so habe ich noch Hoffnung, daß unser ehrwürdiger Staatspräsident mich begnadigt, denn ich habe in keiner Weise gegen die DDR gehandelt, noch Kriegshetze betrieben. Die politischen Beschuldigungen gegen mich sind frei erfunden. Am 6. September 1952 setzte das Fallbeil dem Leben des Bergmannes Johannes Muras ein Ende. Wenige Minute später erhielt der Henker erneut das Zeichen für eine Hinrichtung; sie löschte das Leben des Bergmannes Ernst Wilhelm aus. Was hat sich in dem thüringischen Dorf Obergebra am 30. April 1952 zu-getragen? Wie schon in früheren Jahren feiern die Bergarbeiter der Schachtanlage Gebra den Vorabend des 1. Mai. In der Dorfwirtschaft Wichmann geht es hoch her. Alkohol heizt die Stimmung an, steigt den Männern schnell zu Kopf. Gegen 22 Uhr ist die Kneipe so voll, daß einige, die nicht mehr hineinkommen, draußen auf der Straße lärmen. Plötzlich sackt der Schachtwart Alfred Sobik in sich zusammen. Eine Herzattacke macht ihm zu schaffen. Einer, der damals zugegen ist, Paul Hoffmann, bemüht sich um den reglos Daliegenden. Irgendjemand holt die Gemeindeschwester herbei. Sie hofft durch Herzmassage noch helfen zu können. Nach 15 Minuten gibt sie ihre Bemühungen auf, schüttelt mit dem Kopf. Ein tragischer Fall, der in den nächsten Augenblicken eine gänzlich andere Dimension annimmt. Plötzlich erschallen vor der Kneipe laute Rufe: „Mörder, Mörder“, Schläge prasseln auf den Bergmann Ernst Wilhelm ein, der blutüberströmt davontaumelt. Was weiter geschieht, gleicht einem Shakespeare-Drama, wo oftmals das Böse triumphiert, weil es genial in Szene gesetzt ist. Ein herbeigerufener Arzt stellt bei Alfred Sobik Tod durch Herzversagen fest. Am nächsten Morgen ist jedoch der Totenschein spurlos verschwunden. Nicht mehr aufzufinden ist auch die schriftliche Aussage des Zeugen Paul Hoffmann. Der hatte bei dem Toten keine Spur einer Gewaltanwendung bemerkt. Gerhard Muras, Sohn des Bergmannes Johannes Muras, bricht noch heute die Stimme, wenn er das weitere erzählt. Sein Vater kehrte schon in der Nacht nicht mehr in den Schoß der Familie zurück. Er und Ernst Wilhelm wurden von der Stasi festgenommen. Die ungeheuerliche Anschuldigung lautete: Ermordung eines aufrechten Funktionärs der Arbeiterklasse. Bereits am nächsten Morgen existiert auf einmal ein neues Gutachten, ausgestellt von einem gerichtsmedizinischen Sachverständigen. Da steht es schwarz auf weiß zu lesen: Der Tod des Bergmannes Alfred Sobik ist auf erlittene Schläge zurückzuführen. Das perfide eingefädelte Spiel nimmt seinen Fortgang. Plötzlich taucht ein neuer Zeuge auf, will gesehen haben, wie sich die Bergleute Muras und Sobik an der Theke einen heftigen Streit geliefert hätten. Muras habe dabei aus seiner feindseligen Einstellung gegen die SED kein Hehl gemacht. Bei diesem Zeugen handelt es sich um keinen anderen als den Parteisekretär der Schachtanlage. Ein Parteisekretär als Überraschungszeuge Ein Stück bestellter Arbeit, dies wird bereits Stunden später ersichtlich. Auf der Maidemonstration in Nordhausen ruft Erich Mückenberger, Mitglied des ZK der SED, mit Grabesstimme aus: „Ein infamer Mord ist geschehen, ein treuer Sohn der Arbeiterklasse wurde das Opfer der Reaktion. Sie wütet noch immer in Thüringen.“ Dies zielte in ganz besonderem Maße auf eine Gruppe von 40 CDU-Mitgliedern in Obergebra. Auch die beiden beschuldigten Bergleute gehörten ihr an. Dort spielte die SED zu jener Zeit so gut wie überhaupt keine Rolle. Während die Prozeßmechanerie gegen die beiden unschuldigen Bergleute auf Hochtouren läuft, wird von Tag zu Tag deutlicher, was die SED mit diesem konstruierten Fall bezweckt. Es geht ihr um die Ausschaltung einer politischen Kraft, der CDU, die sich zu diesem Zeitpunkt noch längst nicht überall vor den Blockkarren hat spannen lassen. Genau eine Woche zuvor, am 24. April 1952, hatte Walter Ulbricht vor Berliner Parteifunktionären eine aufschlußreiche Andeutung gemacht: Es sei die Zeit gekommen, gegen politische Gegner in der DDR eine schärfere Gangart einzuschlagen. Die Ereignisse überstürzen sich. In der Kreisgeschäftsstelle der CDU in Nordhausen taucht ein gewisser Simonajow auf, seines Zeichens sowjetischer Berater der Stasi. In einem mehrstündigen Gespräch schüchtert er die CDU-Funktionäre ein. Die sehen sich genötigt, ihre Ortsgruppe in Obergebra aufzulösen. Jetzt rückt auch der CDU-Landesvorsitzende August Bach von seinen Parteifreunden ab, bezeichnet sie als feige Mörder. Damit war das Schicksal der beiden Bergleute und CDU-Mitglieder besiegelt. In der Stadthalle von Nordhausen kommt es zu einem Schauprozeß. Den Gerichtssaal füllen ausgesuchte SED-Funktionäre. Kein Familienmitglied der Angeklagten darf an der Verhandlung teilnehmen. Der damals 15jährige Gerhard Muras steht mit verweintem Gesicht vor der Tür, voller Angst, was da drinnen mit seinem Vater geschieht. Vieles was damals passierte, steigt noch immer wie ein Alptraum in ihm hoch. Einige wenige Zeugen raffen ihren Mut zusammen und machen wahrheitsgemäße Aussagen. Staatsanwalt Piehl schreit sie nieder, zwingt sie dann zum Verlassen des Gerichtssaals. Nur wer im Sinne der konstruierten Anklage seine Aussage macht, erfreut sich des Wohlwollens der Staatsanwaltschaft und der Richter. Am späten Nachmittag wird das Todesurteil verkündet. Bis zuletzt hofft die Familie Muras, daß dieses Gespinst von Lüge und Verleumdung noch zerreißen wird. Man setzt alle Hoffnung auf Staatspräsident Wilhelm Pieck. Der könne doch nicht zulassen, daß zwei Arbeitern ein solches Unrecht zugefügt wird. Doch die Präsidialkanzlei hüllt sich in Schweigen. Nichts vermag mehr die Hinrichtung aufzuhalten. Am 6. September 1952 um 4.35 Uhr fällt im Untersuchungsgefängnis von Dresden das Haupt des Johannes Muras unter dem Fallbeil. Ein Arzt der Volkspolizei stellt den Totenschein aus, trägt als Todesursache Herzkreislaufversagen ein. Das Geschehen geriet niemals in Vergessenheit 14 Tage später geht bei der Familie Muras die Ablehnung des Gnadengesuches durch den Staatspräsidenten ein. Und einige Zeit darauf kommt ein weiterer Brief von seinem Amtssitz in Berlin-Niederschönhausen. In ihm wird der Witwe Hedwig Muras die Aushändigung der Urne ihres hingerichteten Mannes verweigert. Wörtlich heißt es in dem Schreiben: „Wir müssen Sie bitten einzusehen, daß diese Anordnung keine Schikane für die Angehörigen von Verurteilten darstellt, sondern seine bestimmten Gründen hat.“ Die Gründe waren unschwer zu erkennen. In Obergebra veranstaltete die SED einen Massenaufmarsch anläßlich der Beisetzung von Alfred Sobik. Auf dem kleinen Ortsfriedhof wurde ein pompöses Denkmal aufgestellt. Es trug die Inschrift: „Ein Held der Arbeiterklasse wurde feige gemeuchelt“. Einen Grabstein der Hingerichteten auf dem gleichen Friedhof duldete die SED nicht. In der Folgezeit erhielten Straßen in Obergebra und Nordhausen den Namen „Sobik“. Ein Kulturhaus wurde nach ihm benannt. Arbeitsbrigaden kämpften im sozialistischen Wettbewerb um die Ehre, seinen Namen tragen zu dürfen. In Obergebra breitete sich über Jahrzehnte Schweigen aus. Doch das furchtbare Geschehen geriet niemals in Vergessenheit. Nach der Wende wurde in dem Ort mit der Vergangenheit abgerechnet. In einem Gottesdienst gedachte man der unschuldig hingerichteten Bergleute. Plötzlich kam die Wahrheit Stück für Stück ans Tageslicht. Viele Menschen schämten sich, über so lange Zeit das Verbrechen der SED widerspruchslos hingenommen zu haben. Das Heldendenkmal von Sobik verschwand vom Friedhof. Nun steht dort ein schlichter Gedenkstein für die beiden ermordeten Bergleute. Seine Inschrift lautet: Unschuldig hingerichtet.

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