Tagelang jubelte die Physikwelt, als gäbe es einen zweiten Einstein zu feiern: Vom „Höhepunkt menschlichen Schöpfergeistes“ war die Rede. Wir seien „Zeugen einer physikalischen Offenbarung“ geworden. Was war geschehen?
Die „Weltwundermaschine“, der gigantische Teilchenbeschleuniger des europäischen Forschungszentrums CERN bei Genf, hatte am 30. März nach jahrelangen Pannen endlich seine Feuertaufe bestanden. Elementarteilchen (Protonen) waren auf ihren Partikelrennbahnen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit gebracht worden und erreichten eine vorher noch nie gemessene Energie.
Dann erzeugten die Physiker ein förmliches Trommelfeuer, indem man die Winzlinge kollidieren ließ. Der Splitterregen wird jetzt monatelang ausgewertet, und die Hoffnung ist groß, viele Geheimnisse der Physik so zu entschlüsseln. Der Large Hadron Collider (LHC), so der Name der Partikelschleuder, wird seit Jahren mit vielen schmückenden Attributen und Vergleichen bedacht.
Megamaschine. Der LHC ist der größte jemals gebaute Teilchenbeschleuniger. In dem 27 Kilometer langen und knapp vier Meter hohen Tunnel werden die kleinsten Bausteine der Materie, sogenannte Elementarteilchen, fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und zur Kollision gebracht. Starke Magneten halten sie auf der Kreisbahn.
Urknall-Theorie beantwortet philosophische Fragen nicht
Die in zwanzig Jahren Bauzeit errichtete Anlage liegt etwa 100 Meter unter der Erde im schweizerisch-französischen Grenzgebiet. Mit einer Temperatur von minus 271 Grad Celsius ist sie zugleich der größte Kühlschrank der Welt. Die Anlage kostete etwa 4,5 Milliarden Euro. Achtzig Nationen sind mit 10.000 Wissenschaftlern am CERN vertreten.
Urknallmaschine. Vor 13,7 Milliarden Jahren entstand unser bekanntes Universum. Das ist mittlerweile die vorherrschende Ansicht der Kosmologen. Der Anfang wird mit dem diffusen Begriff „Urknall“ bezeichnet. Doch diesen Urknall wird man im Labor nicht nachstellen können. Die Teilchenbeschleuniger werden sich ihm zeitlich nur nähern.
Eine Milliardstel, eine Billionstel Sekunde nach dem Urknall – diese Szenerien sind darstellbar, mehr nicht. Will man zeitlich weiter zurück (so wie man einen Film in der Zeit rückwärts spulen ließe) bis zum berühmten Punkt Null, so würde die Mathematik schlichtweg versagen. Die Urknall-Theorie ist selbst – zumindest philosophisch – erklärungsbedürftig. Was hat da eigentlich „geknallt“? Wann? Wo? Wer oder was hat den Knall verursacht?
Hoffnungsmaschine. Wonach suchen die Teilchenphysiker am CERN? Erster Kandidat ist das Higgs-Teilchen, von manchen auch „Gottesteilchen“ genannt. Die Eigenschaften eines jeden Objekts im Universum, vom DNA-Molekül bis zu den Galaxien, werden von einigen wenigen Zahlen – den Naturkonstanten – bestimmt. >>
Dazu gehören auch die Massenzahlen von Elementarteilchen. So besitzt ein Proton 0,14 Prozent weniger Masse als ein Neutron und hat 1.836 Mal mehr Masse als ein Elektron. Doch warum nicht 1.835 oder 1.837 – Zufall oder Notwendigkeit?
Der englische Physiker Peter Higgs formulierte schon 1964 ein spezielles Feld oder Teilchen, das den anderen Partikeln ihre Masse verleiht – eben das Higgs-Teilchen. Seitdem fahnden die Teilchenjäger, besonders am CERN, danach. Ebenso nach dem mysteriösen Dunklen im All: 95 Prozent des Universums bestehen aus Dunkler Materie und Dunkler Energie, so die Berechnungen der Astronomen und Astrophysiker. Doch über diese dunklen Seite unserer Welt weiß die Astrophysik nahezu nichts.
Angstmaschine. Spätestens seit dem Hollywood-Film „Illuminati“ wird der Teilchenbeschleuniger der CERNianer mit „Antimaterie“ und „Bombe“ konnotiert und erzeugt angstmachendes Halbwissen. So titelte Bild am Vortag des Experimentes: „Das gefährlichste Experiment der Menschheit“, und auch der Schweizer Boulevard beteiligte sich an apokalyptischen Szenarien. Dies hatte dazu geführt, daß eine panische Bürgerin in Deutschland sogar vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatte, um das „Urknall-Experiment“ zu stoppen – vergebens.
Gutachten stellten wiederholt fest, daß vom LHC keine Gefahren ausgehen. Die theoretisch möglichen mikroskopischen Schwarzen Löcher würden unmittelbar zerstrahlen, anstatt wie befürchtet immer mehr Masse und Energie aus der Umgebung aufzunehmen. Ferner treffe natürliche kosmische Strahlung ständig mit noch höherer Energie als im LHC auf unsere Erdatmosphäre, ohne dabei Katastrophen zu verursachen. Unser guter alter blauer Planet kann also weiter um die Sonne kreisen. Keine gefräßigen Mini-Monster werden ihn von innen aufreißen und verschlingen.
Die Suche nach Erkenntnis wird wohl nie enden
Metaphysikmaschine. Zu den Träumen der CERNianer gehört die Vision von der Weltformel, die der LHC liefern soll: eine Formel, die das gesamte Universum, seine Geschichte und seine Zukunft im ganz großen wie im ganz kleinen erklärt. Die seit Jahren diskutierte String-Theorie ist hier ein heißer Kandidat: die Gleichung von allem, die dann auch der Gottesidee den Garaus machen würde. Sie „würde einen von aller Metaphysik befreiten Schöpfungsmythos gebären“ wie die Zeit mutmaßte.
Doch vor derart universalistischen Ansprüchen ist Skepsis angesagt. Das britische Physik-Genie, der an den Rollstuhl gefesselte Denker Stephen Hawking, hat die Hoffnung auf diese Weltformel vor einigen Jahren aufgegeben. In einem legendären Vortrag, gehalten 2003 an der Texas A&M University, bekannte er: „Manche Leute werden enttäuscht sein, wenn es keine endgültige Theorie gibt, die mit einer endlichen Zahl von Prinzipien formuliert werden kann. Ich gehörte in dieses Lager, aber ich habe meine Meinung geändert.
Jetzt bin ich froh, daß unsere Suche nach Erkenntnis nie enden wird und wir stets die Herausforderung zu neuen Entdeckungen haben.“ Am Rande: Diese Formel aller Formeln müßte sich selbst ja auch noch erklären – logisch-mathematisch mehr als problematisch. Gott bleibt also im Spiel. Das vorläufige Fazit: Die größte je von Menschen gebaute Maschine hat im teuersten Experiment der Geschichte die kleinsten Teilchen der Materie auf die höchste Geschwindigkeit gebracht. Auf alles andere müssen wir warten.
JF 20/10