Früh am Morgen bereite ich mich auf eine Trainingseinheit auf dem Pfannhorn, dem Hausberg meines fünfhundert Seelen großen Heimatdorfes, vor. Ein erster, warmer Sonnenstrahl durchdringt den dichten Nebelschleier, als ich steil bergwärts zum Gipfel empor wandere. Ich zücke mein Notizheft, welches ich stets in meinem kleinen Rucksack verstaut habe. Grund dafür ist die Ehrfurcht, welche sich jedesmal aufs neue in mir anstaut, wenn ich in einem Moment der Freiheit neben dem Gipfelkreuz sitze und das unbeschreibliche Panorama der Tiroler Bergwelt bestaune. Wie so oft fehlen mir die Worte und so Blicke ich hinunter ins Tal. Dort sehe
ich Wiesen, Wälder und einen kleinen smaragdgrün schimmernden See. Daneben prägende Landschaftselemente wie traditionelle Bauernhöfe mit ihren Holzzäunen, Schindeldächern, Trockenmauern, Backöfen und Mühlen, welche schon seit vielen Generationen als Haus und Heim für alteingesessene Bauersfamilien samt ihrem Vieh dienen. Diese fügen sich passend in das Gelände ein und bilden nebst den Tiroler Trachten und Mundarten das charakteristische Landschaftsbild und kulturelle Erbe Südtirols.
„Verzweiflungsarchitektur und Dekonstruktivismus“
Mitten in diesem idyllischen Landstreifen ragt ein rechteckiges, aus Metall und Glas bestehendes Wohngebäude hervor. Ohne jede Ortsbezogenheit, Angemessenheit oder Wertbeständigkeit – ein mustergültiges Beispiel für moderne Bauten in Südtirols Dörfern und Städten, welche eher mit „Verzweiflungsarchitektur und Dekonstruktivismus“ zu tun haben als mit Baukultur. Nun sind dies sehr junge, um nicht zu sagen, moderne Phänomene, dementsprechend existiert auch der Verband über den ich diese Reportage schreibe, seit knapp einem Jahrhundert. Gemeint ist der Heimatpflegeverband Südtirol (HPV).
Ich setze mich mit Dr. Peter Ortner und mit der Verantwortlichen eines Vereins des Heimatpflegeverbands Südtirol in Toblach in Verbindung. Dr. Ornter hat das Amt des Landesobmannes für den HPV als Direktor des Realgymnasiums von Bozen im fernen Jahre 1996 übernommen. Im Gespräch verrät er mir nach mittlerweile 15 Jahren Obmannschaft im Verband, was denn Heimatpflege ist, warum sie sich ständig entwickelt und deshalb Jahr für Jahr aktuell und angepaßt sein muß. Denn blickt man auf die Geschichte des HPV zurück, so merkt man, „daß jede Zeit ihre besonderen Probleme hatte, auf die die Heimatpflege zu reagieren versuchte“, so Dr. Ortner.
Bereits die Schriften Kunibert Zimmeters, dem Gründervater der Heimatschutzbewegung, zeugten schon 1907/1908 von einer bedachten Weitsicht. Inspiriert durch den Berliner Musikprofessor Ernst Rudorff, der den Begriff „Heimatschutz“ 1904 erstmals prägte, gründete Zimmeter gemeinsam mit Gotthard Graf Trapp den Verein für Heimatschutz in Tirol. Zimmeter warnte schon damals vor den Gefahren der zunehmenden Industrialisierung und konstatierte, daß der blinde Glaube an alles Machbare beim Bau von Straßen, Eisenbahnlinien und Gebäuden in einer Architektur, die sich bedenkenlos über das historisch Gewachsene hinwegsetzt, zu einer solchen Verwilderung des Geschmacks und zur Zerstörung der Schönheit und Einzigartigkeit unserer Heimat führen würde, so daß eine „innerliche Verödung unseres Lebens“ die Folge wäre.
Ausverkauf der Heimat
„Und da stecken wir mittendrin!“ beklagt der mittlerweile 77jährige Dr. Ortner. So zählen Naturschutz, Denkmal und Baupflege in den Bereichen Ensembleschutz, Erhaltung des charakteristischen Landschaftsbildes, Kampf gegen Großprojekte, Raubbau sowie Ausverkauf der Heimat ebenso zu den Zielen des HPV wie die Pflege der Tracht und der Mundart. Denn Sprache sei „mehr als ein aus Vokabeln zusammengesetztes Verständigungsmittel. Sie ist vor allem ein Spiegelbild von Wertvorstellungen und Verhaltensweisen des jeweiligen Volkstums.“
Zum kulturellen Erbe Südtirols zählen weiters bäuerliche Kleindenkmäler und prägende Landschaftselemente wie Holzzäune, Stroh- und Schindeldächer, Trockenmauern, Bildstöcke, Backöfen und Mühlen. Für die Bewältigung dieser Aufgaben engagiert sich der HPV landesweit mit seinen knapp 4.000 Mitgliedern, welche auf 36 Vereine aufgeteilt sind.
Was steckt hinter diesen Veränderungen? Dr. Ortner sieht das Problem in einem gewissen Werteverfall der Südtiroler. Die Menschen und daraus resultierend auch das Bild Südtirols, hätten sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Durch den enorm gewachsenen Wohlstand habe eine Werteumkehrung stattgefunden und sich eine gewisse Präpotenz breitgemacht, welche nicht nur bei den jüngeren Generationen zu bemerken sei, sondern sich in allen Bevölkerungsschichten niederschlage.
Tourismus hat in Südtirol einen hohen Stellenwert
„Während man früher mit den Leuten noch über bestimmte Probleme sachlich diskutieren konnte und man am Ende meistens dann auch zu einer vernünftigen Lösung gefunden hat, beharrt heute jeder auf seinem Standpunkt, ist kaum mehr kompromißbereit und erachtet alles als sein Recht.“ Verbunden mit Profitgier kämen so ständig neue Bedrohungen auf unsere Heimat zu.
Der Tourismus hat in Südtirol einen hohen Stellenwert, so ist die Belastung der Umwelt nicht nur durch die unzähligen Feriendörfer sowie Hotel- und Liftanlagen sehr hoch. Mit rund 28,5 Millionen Übernachtungen im vergangenen Jahr bedeutet das eine enorme Belastung für Südtirol. „Durch den fortschreitenden Wohlstand in den letzten Jahrzehnten ist das Gespür für das rechte Maß verlorengegangen“, moniert der Obmann. So wurde in den letzten beiden Jahrzehnten mehr gebaut als in den Jahrhunderten davor. Dies in einem einzigartigen Fleckchen Erde, von dem Teile 2009 von der UNESCO als „serielles Weltnaturerbe“ anerkannt wurden.
Mit der Erklärung des Komitees: „Die neun Teilgebiete des Welterbes Dolomiten bilden eine Serie einzigartiger Gebirgslandschaften von außergewöhnlicher Schönheit. Die erhabenen, monumentalen und farbenreichen Landschaften der Dolomiten haben seit jeher eine Vielzahl an Reisenden fasziniert und waren die Quelle zahlreicher wissenschaftlicher und künstlerischer Interpretationen.“
Der Heimatpflegeverband versucht einschneidende Projekte und Großbauten in diesen faszinierenden Gebieten zu verhindern und appelliert an den Sinn zum Maßhalten, zu Sparsamkeit, Einfachheit und Solidität beim Bau von Häusern, Liftanlagen, Windparks, Straßen und bei der Erschließung für den Fremdenverkehr. Aufgrund der Anzahl sollen hier nur zwei aktuelle exemplarische Projekte genannt werden: das neue Kellereigebäude in Tramin und die größte Hochalm und zugleich größte Baustelle Südtirols, die Seiser Alm.
Erbe an künftige Generationen weitergeben
Da wir von Projekten sprechen, welche südtirolweit im Entstehen sind und jeden Bereich des Gast-, Industrie- und Verkehrsgewerbes umfassen – somit nahezu alle Gemeinden betreffen – frage ich Dr. Ortner, ob der HPV mit seiner Arbeit bei den Südtirolern des 21. Jahrhunderts überhaupt noch Anklang findet. „Heimatpflege hat mit Natur- und Umweltschutz, Landschaftspflege, Raumordnung, Tracht, Mundart sowie mit Bewahrung der Schöpfung zu tun und ist somit keine Arbeit, sondern eine Lebenseinstellung“, erklärt er. Der HPV betrachtet (Süd-)Tirols Natur- und Kulturerbe als Auftrag und Verpflichtung, welche darin besteht, es zu bewahren und den künftigen Generationen weiterzugeben.
„Dabei sehen wir diese Aufgabe als Realisten des Lebens und nicht als Konservatoren von Raritäten“, akzentuiert Dr. Ortner. Der HPV verzeichnet kleinere und größere Erfolge, der Zuspruch der Bevölkerung sei meist groß. Dennoch gebe es auch Hindernisse und Gegenwind von verschiedenen Wirtschaftslobbys und seit den letzten Jahren auch Politikern. Dies erschwere die Arbeit des HPV, denn „wir sind auf die Vernunft der Menschen angewiesen, die jedoch vom kurzfristigen Profitdenken zunehmend verdrängt wird.“
Dieses Denken stelle sich auch zunehmend bei den Jugendlichen ein. „Junge Südtiroler interessieren sich“, so Dr. Ortner, „nur selten für die genannten Bereiche. Erst wenn sie direkt mit einem Problem konfrontiert sind, weil vor ihrer Haustüre ein ihnen liebgewordener Baum gefällt wird oder ein historischer Bau abgerissen wird, dann erwacht in ihnen das Interesse für den Erhalt dieser Dinge.“ Erfahrungsgemäß interessieren sich die Jugendlichen eher für Sport oder „zeitgemäße“ Dinge, wobei Heimatschutz, wie oben erwähnt, eigentlich ein junges Betätigungsfeld ist. Allerdings gibt es ebenso Vereine, welche sich gemeinsam mit Jugendlichen auf anderem Wege um Umweltschutz kümmern, wie etwa den Alpenverein Südtirol.
Heimatschutz als Lebenseinstellung
Neben den althergebrachten Problemen und Hindernissen die weiter oben geschildert wurden, sieht Dr. Ortner in der Aufgabe des HPV des 21. Jahrhunderts, in der Bewältigung der jüngsten Opponenten des Heimatschutzes, wie Globalisierung, Migranten und ihre Integration und den Klimawandel.
Und hier schafft und bewahrt der HPV wieder und wieder Tradition in Wesen und Kultur, denn der Heimatpflegeverband Südtirol ist eine Vereinigung von Menschen, welche Heimatschutz zu ihrer Lebenseinstellung gemacht haben, ihre Ideen und Überzeugungen in den Erhalt des Südtiroler Natur- und Kulturerbes einbringen wollen und können. Ein Verband, der Tag für Tag und Jahr für Jahr ein Stückchen Tradition bewahrt, um es künftigen Generationen weitergeben zu können – der Heimat verpflichtet.
Lukas Steinwandter belegte mit diesem Beitrag beim Jungautoren-Wettbewerb der JUNGEN FREIHEIT 2011 den dritten Platz.