Seit längerer Zeit kann der aufmerksame Zeitgenosse ein seltsames Phänomen in der sogenannten Öffentlichkeit beobachten. Wiederkehrend und in enger Folge sich wiederholend wird der deutschen Verbrechen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 gedacht. Im Zentrum steht dabei der Mord an Hunderttausenden jüdischen deutschen Bürgern und Millionen europäischen Juden. Dieser Massenmord ist beispielloses Faktum und ein bleibender Fleck in der Geschichte Deutschlands. Er ist nicht auszulöschen. Aber auch das gilt ohne Zweifel: Er ist Geschichte, Faktum der Vergangenheit. Alles Erinnern und Gedenken jener Geschichte macht sie nicht zur Gegenwart. Aber das scheint manchen fraglich.
Die sich ständig wiederholende Wiederkehr dieser Gedenktage – es gibt in unserem Land fast keine anderen – läßt dagegen Fragen aufkommen. Cui bono? Was ist der Zweck? Was soll bewirkt werden?
Es steht fest: An einem 27. Januar wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit. An einem 11. April befreiten die Amerikaner das KZ Buchenwald. An einem 20. Juli mißlang eines der Attentate auf Adolf Hitler. An einem 1. September begann der Zweite Weltkrieg. An einem 9. November wurden massivste Übergriffe auf jüdische Mitbürger ausgeübt. Andere Daten mehr bieten sich für ein durchaus gewichtiges Gedenken jener düsteren Jahre an. Denn wer würde im Blick auf diese Historie fröhlich sein?
Immer aber gibt es einen wiederkehrenden Ablauf. Zunächst wird die schiere Unermeßlichkeit und Einmaligkeit des Verbrechens geschildert. (Dabei bleibt Stalin als der noch größere Mörder natürlich außerhalb des Blickfeldes. Auch die Verbrechen an Millionen Deutschen erscheinen daneben als Quantité negligeable.) Sodann wird die Betroffenheit der heutigen Generation artikuliert. Sie enthält den berechtigten Vorsatz, daß sich solche Taten nie wiederholen dürften. Den Abschluß bildet die Forderung, daß jene Taten der damaligen Machthaber „immer in Erinnerung bleiben werden“. Redner bis hin zum Bundespräsidenten folgen jenen Inhalten, die fast wie ein Ritual wirken.
Näheres Zusehen zeigt deutlich: Hier geht es um mehr als bloßes Gedenken. Die Häufigkeit der Gedenktage und die Forderung nach einer immerwährenden Erinnerung weisen auf anderes hin: Es geht um Schuldbewältigung. Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden als bleibende und noch immer lastende gegenwärtige Schuld gesehen. Immerwährendes Erinnern wird – bis zu den Regierenden hinauf – ganz augenscheinlich als Mittel betrachtet, diese Schuld zu lindern oder allmählich – über Jahrzehnte, vielleicht gar Jahrhunderte hinweg – abzutragen. Aber gegenüber dieser Sicht sind Fragen erlaubt.
Jene Gedenktage, die an die Schuld vergangener Zeiten erinnern, erinnern zugleich an eine alte Einrichtung: die des „Schuldturms“. Säumige und zahlungsunfähige Schuldner wurden in alter Zeit in einen Turm – ein Gefängnis also – eingesperrt, bis ihre Schuld in irgendeiner Weise bezahlt war. Auch ständige Klage darüber änderte nichts. Die Schuld mußte von außen beglichen werden.
Galt dieses Phänomen früher gegenüber aller materiellen Schuld, ist das Modell übertragbar. Es enthält zugleich eine tiefe Wahrheit. Schuld muß beglichen, sie muß in irgendeiner Weise bewältigt werden. Persönliches und gesellschaftliches Leben ist ohne Schuldbewältigung nicht möglich. Andernfalls zerbricht individuelles Leben, es zerbricht eine Gesellschaft.
Allerdings erscheint ständiges Deklamieren von Schuld kaum als probater Weg – und das sowohl in der Vergangenheit als auch im aktuellen Leben einer Gemeinschaft. Andere Wege lösen Schuld. Ein klassischer Weg, Schuld zu bewältigen, ist Wiedergutmachung; Vergeltung und Rache gelten mancherorts als das Mittel der Wahl. Schließlich ist Erlaß von Schuld und Vergebung eine Art Königsweg innerhalb der abendländisch-christlichen Kultur. Das gilt be-sonders gegenüber einer nicht-materiellen Schuld. Das gilt gerade auch dort, wo ein Schaden nicht wiedergutgemacht werden kann.
Viele Menschen im abendländisch-christlichen Kulturkreis kennen das „Vaterunser“, das Gebet Jesu Christi für seine Jünger. Dort heißt es: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir unseren Schuldnern vergeben.“ Dieser Satz weist auf unterschiedliche Dinge hin. Schuld hat – möglicherweise unbemerkt – eine religiöse Komponente. Der Zustand eines Schuldners berührt Tiefenschichten der Persönlichkeit. „Schuldig sein“ ist keine bloße Attitüde. Es umfaßt das ganze Leben. Daneben nennt das Gebet Möglichkeiten, Schuld zu bereinigen. Es zeigt den Weg, wie Menschen sich versöhnen können. Menschen können reuig um Vergebung bitten. Menschen können anderen vergeben. Durch Vergebung wird eine Schuld nicht ausgelöscht. Sie wird aber gewissermaßen „beglichen“. Die böse Tat der Vergangenheit wird ja nicht rückgängig gemacht, es gilt wirklich: „Was geschehen ist, ist geschehen.“
Aber das Leid, die Schuld wird nicht mehr gegen den anderen Menschen genutzt. Schuld steht nicht mehr zwischen den Menschen. Die Last der Schuld ist gemeinsame Last. Das zugefügte Leid ist gemeinsames Leid. Und darüber muß dann nicht mehr ständig geredet werden – im Gegenteil. Nur Kamele fressen das sprichwörtliche Gras, das über eine böse Sache gewachsen ist. Der „Gläubiger“, der wie auch immer Geschädigte, gibt seine Macht gegenüber dem Schuldner auf. Dieser muß sich nicht mehr demütigen. Die Beziehung ist wiederhergestellt – vielleicht tiefer als zuvor. Bewältigte und vergebene Schuld verbindet.
Können Deutsche unserer Zeit Juden um Vergebung bitten; können sie je Vergebung erfahren – so, daß sie nicht mehr Schuldner sind, sich ständig selbst demütigen müssen? Kann der Zwang ständigen Erinnerns gelöst werden? Ein Blick in das Alte Testament, in die „Thora“ (Gesetz), die „Nibe’im“ (Propheten) und „Ketubim“ (Schriften) der mosaischen Religion als Grundlage jüdischer Tradition zeigt Probleme. Diese Probleme verstärken sich durch die geschichtliche Dimension: Heutige Deutsche sind nicht mehr Täter. Wer sich heute zu Worte meldet, spricht über andere.
Eine wesentliche Erkenntnis zuerst: Das Alte Testament, die hebräische Bibel als die wesentliche Grundlage jüdischen Glaubens, kennt Vergebung unter Menschen kaum. In der heiligen Schrift der Juden gibt es – soweit erkennbar – eine einzige Schriftstelle, die die Beziehung zum Mitmenschen ganz konkret berührt. In einer späten Schrift (Jesus Sirach) heißt es: „Vergib dem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben“ (28, 2). Schuldbewältigung hat in der mosaischen Religion andere Schwerpunkte.
Vergebung hat dennoch auch in der jüdischen Religion einen gewichtigen Platz in der Gottesbeziehung. Schuld gegenüber Gott wird am „Großen Versöhnungstag“ getilgt. Der „Jom Kippur“ ist auch heute in Israel einer der höchsten Feiertage. Gott vergibt. Er tilgt Schuld. Davon ist immer wieder die Rede.
Bei der Schuld an Menschen steht jedoch anderes im Zentrum des Denkens und Handelns: die Wiedergutmachung. Die „Thora“, die fünf Bücher Mose, nennen Regeln für eine Vielzahl von Lebensproblemen. Da gibt es ganze Kataloge des Ausgleichs für zugefügten Schaden. Dieser Ausgleich geht hin bis zur Sühne an Leib und Leben. Dabei ist klar, daß Probleme des 20. und 21. Jahrhunderts nicht erfaßt sein können. Massenmord ist in den heiligen Schriften nicht aufgezeichnet, der Umgang damit kann nur erschlossen werden. Bedeutsam ist jedoch eine Grundlehre der hebräischen Bibel: Prinzipiell kann Schuld unter Menschen wiedergutgemacht werden. Sie bleibt nicht „ewig“. Sie kann bewältigt werden. Wenn Juden fordern, daß die Deutschen diese Schuld – den Judenmord – „ewig“ tragen müssen, stehen sie außerhalb der Religion ihrer Väter.
Es kommt anderes und Wesentliches hinzu. Schuld wird nicht vererbt. Von der Bibel der Juden – und Christen – her gibt es keine Generationenhaftung. Einer der großen Propheten, Ezechiel (Namensform nach Luther: Hesekiel) äußert sich dazu ganz apodiktisch: „Ihr aber fragt: Warum trägt der Sohn nicht mit an der Schuld seines Vaters? Weil der Sohn nach Recht und Gerechtigkeit gehandelt hat. Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes. Die Gerechtigkeit kommt nur dem Gerechten zugute und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen“ (Kap. 18, 19-20).
Diese Sätze aus uralter Zeit könnten heute gesprochen sein. Noch einmal: Die Schuld mancher aus der Großvätergeneration ist da. Aber die Nachkommen müssen sie nicht auf sich nehmen. Sie können allen Versuchen widerstehen, in einen Schuldturm eingesperrt zu werden. Sie müssen sich auch nicht selbst hineinsperren. Sie können unter der Last der Geschichte leiden; sie können sie als Mahnung für das eigene Leben begreifen und ihrer gedenken. Aber sie müssen die Schuld der Vorväter nicht übernehmen und ständig vor sich her tragen. Sie sind selbst an dieser Stelle ohne Schuld.
Wer heute über jene Untaten spricht, spricht über andere. Die Wortführer der politischen Klasse sind die Kinder und Enkel jener Generation, aus der sich Machthaber und Mörder rekrutierten. Das Schulderleben ist kein eigenes Erleben, sondern übernommen. Es ist insofern nicht echt im Sinne einer personalen Integrität. Die geäußerte Betroffenheit und Bußfertigkeit muß darum zwangsläufig rollenhafte Züge haben und einem Ritual ähneln. Redner äußern sich „als Glieder des deutschen Volkes“, „als verantwortliche Politiker“, „als Repräsentanten des Staates“. Zur Debatte steht immer die Schuld anderer, der Väter und Großväter.
Und es ist dann relativ leicht, diese Schuld anderer immer wieder zu benennen. Die eigene Moralität und Rechtschaffenheit leuchtet vor diesem Hintergrund um so klarer: „Wir aber sind anders.“ Zugleich ergibt sich im Verfolg der Ideologie der Achtundsechziger-Generation eine neue verlockende Möglichkeit. Alles Ordnungsdenken bis hin zu konservativen Zielen kann mit dem Hinweis auf jene Schuld schnell mit dem Brandmal „neonazistisch“ oder „rechtsextrem“ versehen und damit indiziert werden. Die Häufigkeit von Gedenken nazistischer Greueltaten unterliegt damit einer zweiten geheimen Norm. Ein Abweichen von dieser Norm muß als Kritik an der eigenen Moralität verstanden werden und löst damit heftigste Abwehr aus. Die Namen Philipp Jenninger, Martin Walser, Martin Hohmann und zuletzt Eva Herman sind Beispiele dafür.
Gedenken ist nötig, gerade auch das Gedenken jener schwarzen Jahre, weil sie vor Augen führen, zu was Menschen fähig sind. Erinnerung muß bleiben, aber eingebettet in eine Gesamterinnerung deutscher Geschichte. Es gibt andere Gedenktage neben einem Holocaustgedenken – Tage deutschen Glückes und deutscher Größe. Der Tag des Mauerfalls am 9. November 1989, des eigentlichen, auch emotional in den Herzen lebendigen Tages deutscher Einheit, ist ein solcher Tag.
Die Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 könnte ein solcher Tag sein. Die Niederlage Napoleons mit dem Ende der französischen Fremdherrschaft in der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1813 eignet sich für deutsche Selbstvergewisserung, wie auch das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Der 18. März könnte sowohl an die Märzgefallenen von 1848 erinnern wie auch an die ersten freien Wahlen in der DDR 1990. Und sich der Reformation 1517 zu erinnern ist nicht nur für evangelische Christen von Bedeutung. Deutsche Geschichte ist mehr als jene Jahre nach 1933.
Dr. theol. Traugott Schall, Jahrgang 1931, ist evangelischer Pfarrer im Ruhestand. Schall praktiziert freiberuflich als Psychotherapeut in Detmold.
Foto: Denkmal befreiter KZ-Häftlinge, Lichtermeer beim „Zug der Erinnerung“, Berlin 2008: Das Schulderleben ist kein eigenes Erleben, sondern übernommen. Es ist insofern nicht echt im Sinne einer personalen Integrität. Die geäußerte Betroffenheit und Bußfertigkeit muß darum zwangsläufig rollenhafte Züge haben und einem Ritual ähneln. Die eigene Moralität und Rechtschaffenheit leuchtet vor diesem Hintergrund jedoch um so klarer.