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Sie war, sie ist, sie wird sein

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Sie war, sie ist, sie wird sein

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Im Jahre 1945 veröffentlichte der amerikanische Ethnologe George Peter Murdock einen Aufsatz unter dem Titel „The Common Denominator of Cultures“, in dem er 73 Dinge aufzählt, von denen er glaubt, daß jedwede Kultur über sie verfüge. Es ist bezeichnend, daß dieser Aufsatz in einem Sammelwerk erschien, das den Titel trägt: „The Science of Man in the World Crisis“. Der Gedanke liegt nahe, daß Ralph Linton, der Herausgeber des Bandes, und seine Autoren gleichsam nach Fixpunkten Ausschau hielten, die den Zeitgenossen nach dem Ende der physischen und moralischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs eine neue Orientierung möglich machen könnten. Es ist sicher kein Zufall, daß Murdock die family zu den transkulturellen Universalien zählt, leider ohne zu erläutern, was er darunter versteht. Auch heute, im Zeichen der Neuordnungen politischer Landschaften nach dem Zusammenbruch der alten bipolaren Ordnung des Kalten Krieges sowie der Globalisierung und ihrer sozialen Folgen ist der Wunsch nach Orientierung allenthalben zu spüren. Die Idee der Nation gewinnt erneut Überzeugungskraft, und bei der jungen Generation von heute stehe die Familie, so hört man, wieder hoch im Kurs. Was aber ist das – die Familie? Das Beziehungsgeflecht zwischen Eltern, Kindern und weiteren bluts- und metaphorischen Verwandten, das Familie genannt wird, ist außerordentlich vielgestaltig. Familien sind keine starren, unflexiblen und von ihrem historischen Hintergrund ablösbare Gebilde, sondern an die Zeitumstände anpaßbare menschliche Symbioseformen. Dennoch ist es nicht angebracht, ihnen eine beliebige Formbarkeit zuzuschreiben, wie es heute oft geschieht. In der europäischen Sozialgeschichte unterscheidet man beispielsweise vier idealtypische Familienformen voneinander: die Kernfamilie, die Großfamilie, die große Haushaltsfamilie und die Sippe. Der ethnologisch-kulturvergleichende Blick über Europa hinaus rückt ferner die Erweiterte Familie in unser Blickfeld. Die Kernfamilie ist der uns vertraute Zweigenerationenbund aus Eltern und unmündigen Kindern; die Großfamilie ein Verband aus mehreren von einem gemeinsamen Vorfahren abstammenden Kernfamilien; unter der großen Haushaltsfamilie – der oikia des Aristoteles – versteht man eine Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft unter der Leitung eines Hauselternpaars, zu dem auch das nichtverwandte oder -verschwägerte Gesinde zählt; die Erweiterte Familie ist ein Zwei- oder Dreigenerationenverband aus den zusammenlebenden Kernfamilien verheirateter Geschwister und ihren noch unverheirateten Söhnen und Töchtern sowie den Eltern, falls diese noch am Leben sind. Die Sippe ist eine den Germanen in frühgeschichtlicher Zeit zugeschriebene Verbindung von Familien aufgrund der Blutsverwandtschaft, wobei die einzelnen Familien in der Regel nicht an einem Ort zusammen wohnten und wirtschafteten. Die Sippe mußte auch kein gemeinsames Oberhaupt haben (Ingeborg Weber-Kellermann, „Die deutsche Familie“, 1974). Zu den Blutsverwandten können stets auch Adoptierte hinzutreten und vollberechtigte Familienmitglieder werden. Durch den Kulturenvergleich wird deutlich, daß es bestimmte stets wiederkehrende Familienformen gibt, so daß es durchaus gerechtfertigt ist, die Familie als eine transkulturelle Universalie zu bezeichnen. Dies trifft jedoch gerade auf die sogenannte „bürgerliche“ Kernfamilie nicht zu, den konsumorientierten, aus Eltern und Kindern bestehenden, nicht-produktiven Zweigenerationenverband, an den wir wohl in der Regel als erstes denken, wenn von der Familie die Rede ist. Rein formal betrachtet kommen zwar in fast allen vormodernen Gesellschaften Kernfamilien vor, sie stehen aber nicht als produzierende und wirtschaftende Einheiten für sich selber, sondern sie sind in umfassendere Familienverbände eingebettet. Die Ehegatten und ihre unmündigen Kinder bilden zusammen mit den anderen Familienmitgliedern ein Glied eines produktiven Arbeits- und Lebenszusammenhangs mit klar ausgeprägter Komplementarität der Geschlechterrollen. Unter den Verhältnissen der Vormoderne gliedert sich die Familie durch reale und metaphorisch-symbolische Verwandtschaftsbeziehungen in das umfassendere politische Gemeinwesen ein – Polis, „Stamm“, Staat – und ist in letzter Instanz genealogisch in die Welt der Gottheiten eingebunden. Die Familie ist somit immer auch Kultgemeinschaft, ecclesia; die Familienoberhäupter erfüllen priesterliche Beamtungen für das Wohl der Familie. Diese numinose Qualität der Familie ist der säkularisierten Gegenwart allenfalls nur noch schwer verständlich zu machen. Das ist auch an der Tendenz abzulesen, die Institution der Ehe, die Grundlage der Familie, als Ausdruck persönlicher Liebe oder individueller sexueller „Orientierungen“ zu verstehen. Die numinose Qualität der Familie und des umfassenderen Gemeinwesens kommt in den mythischen Kosmogonien zum Ausdruck. Diese Weltentstehungslehren berichten davon, wie die Welt, die wir heute kennen, einstmals durch göttliche Wesen gestaltet wurde, wie sie entstanden ist und wie sie auch bleiben soll. Zu den Stiftungen der Gottheiten, die der Mensch durch sein Handeln vergegenwärtigen soll, zählen auch die politische und soziale Ordnung und das Brauchtum. Die politische Symbolik des in illo tempore (Mircea Eliade), also in der Gründungszeit der Welt gestifteten Gemeinwesens umschließt Familie und Gemeinwesen in Gestalt der Metapher der allgemeinen Clanverwandtschaft. Die ersten politischen Führer können beispielsweise in den Namen der gegenwärtigen Träger politischer Beamtungen realpräsentisch gegenwärtig sein. Oft handelt es sich dabei auch um vergöttlichte Ahnengestalten. Daher kann man bezüglich vormoderner Verhältnisse von der numinosen Qualität der Familie als einer Doppelstruktur sprechen, die mit einem Ende in den Alltag hineinreicht und mit dem anderen Ende über Polis, „Stamm“ oder Staat in den Bereich des Numinosen eingebunden ist. Im Rahmen einer mythisch geprägten Weltauffassung ist der Mensch daher Mitarbeiter der Gottheiten bei der Aufgabe der Erhaltung des gemeinsamen „Welthauses“. Dieser Aufgabe soll er nach Maßgabe des Status, den er innehat, gerecht werden. Vom Mythos scheint kein Weg zu Martin Luther zu führen, dennoch ergibt sich hier eine überraschende Parallele zu Luthers Arbeitsethik: Gott wirkt durch den Stand und die Berufe in der Schöpfung weiter, er möchte durch die menschliche Arbeit seine Schöpfung vollenden. Wer seinem Stand – beispielsweise als Ehemann oder Ehefrau, Sohn oder Tochter – und seinem Beruf gerecht wird, handelt nach Gottes Willen. So wird auch hier die Familie in den Rahmen einer göttlichen Weltordnung gestellt, obwohl der Mythos der protestantischen Gesinnung ja nicht gerade nahesteht. „Mythos semper vivus“ – gerade auch dann, wenn man glaubt, ihn überwunden zu haben. Die Familie ist heute unter den Verhältnissen der Globalisierung mehr denn je den Zeitumständen mit ihren Konflikten und Gegensätzen ausgesetzt, die sie von außen und innen gefährden. Auch unter den Bedingungen der Vormoderne war die Familie durch innere und äußere Spannungen gefährdet. Die starke Betonung der numinosen Ursprünge der Familie und ihre Verankerung als ecclesia im politischen Gemeinwesen können als Gegengewichte gegen die zentrifugalen Kräfte gesehen werden, denen die Familie zu allen Zeiten ausgesetzt war. Bei aller Vielfalt ihrer Formen hat sich die Familie jedoch auch als eine widerspenstige Realität erwiesen, als eine Konstante des menschlichen Lebens, die nicht weg- oder dekonstruiert werden kann. Sie ist eine transkulturelle Konstante – flexibel, aber eben nicht grenzenlos flexibel. Sie stand und steht jenen im Wege, die die Welt nach ihren Grundsätzen neu erschaffen wollen und deshalb bei der Familie ansetzen, weil hier die Grundlagen für den Weiterbestand des Gemeinwesens gelegt werden. Die Sowjetunion ist ein Beispiel: In der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Familie zeitweise als eine Institution in Opposition zum Staat gesehen. Das Individuum wurde als dem Staat zugehörig betrachtet, nicht der Familie. Der Angriff auf die Familien wird heute nicht mehr von seiten eines allmächtigen Staates geführt, sondern von nichtstaatlichen Kräften. Im Einklang mit dem marktliberalistischen Zeitgeist wird dieser Kampf mit missionarischem Eifer – auch im Namen der Ideologie des Gender Mainstreaming – und mit Hilfe einer Flexibilitätsrhetorik geführt, die uns ein ums andere Mal bis zum Überdruß verkündet, man müsse im globalen Dorf eben flexibel, mobil und wettbewerbsorientiert sein. Aber welche Folgen hat all dies für die Familien? Papst Johannes Paul II., dem man gewiß nicht nachsagen kann, ein „Linker“ gewesen zu sein, hat schon 1991, bald nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs, in seiner Enzyklika „Centesimus Annus“ unmißverständlich vor der Ausbreitung einer radikalkapitalistischen Ideologie gewarnt – einer Ideologie, die die Lösung der sozialen Probleme „in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt“. Die Familie ist ein Bollwerk gegen den Zugriff der Marktkräfte auf die Individuen. Es liegt daher auf der Hand, daß diese Kräfte über ihre Sprachrohre in den Parteien, den Nachrichtenmedien und der Unterhaltungsindustrie bei der Ehe als dem Angelpunkt der Familie in unserer Kultur ansetzen. Mit der Ehe soll zugleich die Familie aufgebrochen werden. Vor diesem Hintergrund muß auch die Kampagne für die formelle Gleichsetzung „gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften“ mit der Institution der Ehe gesehen werden. Die Ehe wird auf eine Ausdrucksform der individuellen „sexuellen Orientierung“ reduziert und somit auch aus ihrer demographischen Funktion herausgelöst. Die Verbindung von Mann und Frau ist in traditionalen, vormodernen Gesellschaften eine mit der biologischen und sozialen Reproduktion des Gemeinwesens auf das engste verflochtene Institution. Darüber hinaus bildet sie stets auch numinose, makrokosmische Polaritäten ab, die sich im familiären Mikrokosmos und im Mesokosmos des politisch verfaßten Gemeinwesens spiegeln. Keine der uns bekannten nichtwestlichen Gesellschaften gründet daher eine so fragile Institution wie die Ehe allein auf persönliche Gefühle oder die sexuelle Orientierung der Partner. Die sogenannte „Frauenehe“, wie sie in bestimmten traditionalen afrikanischen Gesellschaften vorkommt, ist keine Widerlegung dieser Behauptung – im Gegenteil. Bei dieser Verbindung handelt es sich um eine von ökonomischen- und Statusinteressen bestimmte, von sexuellen Komponenten freie, nach traditionalem Brauchtum geschlossene Ehe zwischen einer in der Regel älteren, wohlhabenden Frau nach den Wechseljahren in der Gattenrolle und einer jungen Frau, die sich Liebhaber nicht nur halten darf, sondern sogar halten soll. Die Kinder dieser jungen Gattin gelten als die legitimen Kinder der älteren Frau, die ihnen gegenüber die soziale Vaterrolle einnimmt. Darüber hinaus erfüllt sie oft auch die Rolle der Gattin in einer normalen Ehe mit einem Mann. Das polare Grundmuster männlich/weiblich, das vor dem Hintergrund einer mythischen Weltauffassung immer in die Welt der Götter führt und aus dieser seine kosmologische Legitimation erfährt, bleibt also auch in dieser afrikanischen Eheform erhalten. Die tief im mythischen und religiösen Bewußtsein der Völker verankerte Polarität der Qualitäten von Mann und Frau verlangt nach einer angemessenen Präsenz des Weiblichen im Kultus, der sich auch das Christentum nicht entziehen konnte. Daher wurde auf dem Konzil zu Ephesos im Jahr 431 Maria in den Rang der Gottesmutter erhoben, und daher begegnet uns in der Weihnachtszeit die „Heilige Familie“, sofern dies aus Gründen der politischen Korrektheit und mit Rücksicht auf nichtchristliche Einwohner noch nicht verboten ist. Aber was kann das Bild der Heiligen Familie jenen noch sagen, denen in der säkularen Postmoderne das Gespür für die religiöse Fundierung des Lebens abhanden gekommen ist? Die Familie als kulturelle Universalie ist aus der Geschichte der Menschheit nicht fortzudenken. Sie ist „Weltkulturerbe“ schlechthin. Sie kann auch in der modernen Welt ein Ort der Daseinsbereicherung, der Regenerierung, der religiösen Erziehung und der Sinnstiftung sein, wenn wir die Verhältnisse schaffen, unter denen sie bestehen kann. Wir dürfen nicht zulassen, daß sich – in welcher Partei auch immer – jene Fanatiker durchsetzen, die im Namen einer Totalemanzipation von der Natur uns nicht nur aus dieser, sondern aus der Kulturgemeinschaft mit dem Rest der Welt herauskatapultieren wollen. Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT setzte er sich zuletzt mit dem Spannungsverhältnis zwischen Familie und Erwerbsarbeit auseinander („Die Doppelgestalt der Moderne“, JF 47/07). Foto: Mehrgenerationenfamilie, Feier der Erstkommunion: Die starke Betonung der numinosen Ursprünge der Familie und ihre Verankerung als ecclesia im politischen Gemeinwesen können als Gegengewichte gegen die zentrifugalen Kräfte gesehen werden, denen die Familie zu allen Zeiten ausgesetzt war

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