Wer am 4. und 5. März die ARD in der Hoffnung einschaltet, daß der Fernsehfilm „Die Flucht“ die Erfahrungen von Krieg, Gewalt, Verlust endlich in kathartischer Weise formuliert, der wird schnell feststellen, daß schon wieder eine große Chance vertan worden ist. Und der Gedanke, daß der Verlust der Ostgebiete über die persönlichen Tragödien hinaus auch ein nationales Drama darstellt, kommt nicht einmal ansatzweise vor. Dem Zuschauer werden die Sicht und die Begründungen der Sieger präsentiert, die inzwischen vom deutschen Staat übernommen wurden und die er vehement vertritt, obwohl die Deutschen 1945 eben nicht zu den Siegern gehörten. Ein Desaster also trotz großen Aufwandes, jahrelanger Vorbereitungen und teilweise hervorragender Schauspieler. Ängstlich halten die Künstler sich an die politisch korrekte Sprachregelung und Sichtweise, und entsprechend läuft der Film darauf hinaus, die offizielle Geschichtsschreibung und -politik zu bestätigen und zu legitimieren. Der „komplette, auch mentale Zusammenbruch“, den Flucht und Vertreibung markierten, habe eine „Gleichheit geschaffen (…), die einen demokratischen Neuanfang beförderte und Deutschland die Tür zurück in die zivilisierte Welt öffnete“, weiß die Drehbuchautorin, immerhin eine promovierte Historikerin, mitzuteilen. Nur ist die Gleichheit kein zwingendes Merkmal der Demokratie, wohl aber sozialrevolutionärer Regimes, und für die Kunst in Deutschland müßte es eine spannende Frage sein, wie zivilisiert eine Welt eigentlich ist, die als Eintrittspreis neben millionenfachem Heimatverlust und Blutopfern noch ein jahrzehntelanges Trauerverbot verhängt. Doch diese Frage wird nicht gestellt, nicht in diesem Film, der einen „gesamteuropäischen Blick“ in Anspruch nimmt – eine vornehme Umschreibung der bundesdeutschen Froschperspektive, aus der wieder bloß die deutsche Alleinschuld an den Weltübeln des 20. Jahrhunderts thematisiert wird und die Geschichte sowieso erst 1933 beginnt. So läßt sich über den ARD-Zweiteiler nur das Schlimmstmögliche sagen: Er entspricht den Erwartungen! Als Kunstwerk ist er folglich bedeutungslos, denn Kunst kann an politischen Widerständen nur wachsen, sie verträgt aber keinen Opportunismus. Sie ist anarchistisch, radikal, respektlos, mutig – oder gar nicht! Auf jeden Fall durchbricht sie die Spielregeln, die die Politik ihr aufdrängen will – sogar auf die Gefahr hin, als revanchistisch oder revisionistisch zu gelten! Andererseits kann man den Filmemachern nicht verdenken, daß sie diesen Wurf nicht wagten. Denn wenn es um Kernfragen der Staatsräson geht – und das geschichtliche Selbstverständnis gehört dazu –, ist die künstlerische und wissenschaftliche Freiheit in der Bundesrepublik heute nicht viel größer als in der DDR, jedenfalls nicht, soweit Künstler und Wissenschaftler auf öffentliche Gelder und Aufträge angewiesen sind und weiterhin vorne mitspielen möchten. Die Debatte, ob man Deutsche als Opfer zeigen dürfe, erinnert an die Diskussionen auf den SED-Kulturkonferenzen der sechziger und siebziger Jahre, ob man dieses oder jenes Thema zulassen könne. In den achtziger Jahren wurden solche Debatten obsolet, denn die talentierteren unter den DDR-Künstlern entzogen sich dem Zwang, ein falsches Bewußtsein zu bebildern, durch ihre Ausreise. Heute haben Künstler, die weiter in und mit der deutschen Sprache arbeiten wollen, diese Alternative nicht mehr. Um so aggressiver stellt das falsche Bewußtsein sich als aufgeklärt dar und behauptet seine Macht. Warum dann überhaupt so ein Film? Ganz offensichtlich gibt es bei den Zuschauern ein massives Bedürfnis nach diesen Stoffen. Die ARD kann es nicht ignorieren, möchte es aber in die politisch richtigen Bahnen lenken – und muß doch Kritik einstecken. Schon warnt etwa der unvermeidliche Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler vor einem „neuen Opferkult“: „Wenn man nicht aufpaßt, ist Auschwitz und der Vernichtungskrieg vergessen, dann strahlt nur noch das deutsche Opfer.“ Spiegel online vermeldete jüngst mit skandalisierendem Unterton, 40 Prozent der Deutschen bedauerten die Gebietsverluste, ein Viertel empfänden die verlorenen Ostprovinzen noch immer als deutsch und hielten den vertraglichen Verzicht darauf für falsch. Letzteres ist politisch unklug, andererseits ein psychologisch verständlicher Reflex auf die Ungeheuerlichkeit der blutigen Operation. Im privaten Bereich sind also Empfindungen und ein Geschichtswissen lebendig geblieben, von denen auf offizieller und staatlicher Ebene niemand mehr etwas wissen will. Sie suchen sich deshalb andere Ventile, zum Beispiel in der Preußischen Treuhand. Unabhängig davon, ob man es überhaupt für wünschenswert hält, die Eigentumsfrage in den Vertreibungsgebieten wieder aufzuwerfen, liegt doch auf der Hand, daß sich im Rechtsanspruch auf Eigentum auch ein Anspruch auf Gedächtnis und geschichtliche Wahrheit äußert und transgenerationell verlängert. Angesichts anschwellender Restitutionsforderungen an Deutschland ist auch der Hinweis nicht überflüssig, daß der weltgeschichtlich größte Vermögensraub sich schließlich mit der Entdeutschung von Immobilien, Gebäuden, Betrieben, Bodenschätzen, Patenten, Guthaben usw. in den Vertreibungsgebieten vollzog. Die deutsche Gesellschaft, insbesondere die Politik, muß solche Gedanken weit von sich weisen, weil sonst offenbar würde, auf was für brüchigen Grundlagen sie sich bewegt. Auch außenpolitisch, denn das deutsche Schuldbewußtsein ist eine Konstante der europäischen und der Weltpolitik, auf die niemand verzichten will. Es ist nur logisch, daß sich auch die Union von einem Zentrum gegen Vertreibungen, das der Bund der Vertriebenen initiiert hat, allmählich verabschiedet. Bereits im Koalitionsvertrag war nur noch von einem „Sichtbaren Zeichen“ die Rede, das den Opfern der Vertreibung in Berlin gesetzt werden solle. Die Tautologie verweist auf die Verlegenheit der politischen Klasse, denn ein „Zeichen“ – eine sinnlich wahrnehmbare Gegebenheit – ist ohnehin stets sichtbar. Die mißratene Formulierung verrät das Bedauern darüber, daß man das Thema nicht unter den Teppich kehren kann. In dieser Situation ist es sinnlos, von Regierung, Parteien, dem Universitätsbetrieb oder den Medienanstalten zu verlangen, sie möchten der eigenen Geschichte gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. Doch jenseits davon eröffnen sich – im Unterschied zur DDR – große Freiräume. Sie warten darauf, von Partisanen gefüllt zu werden. Foto: Flüchtlingstreck über das zugefrorene Haff (Filmszene aus „Die Flucht“), im Hintergrund Hauptdarstellerin Maria Furtwängler als Gräfin Mahlenberg mit ihrer Tochter