Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in der Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.“ Mit diesen knappen Worten wurde vor sechzig Jahren, am 25. Februar 1947, das Gesetz der Alliierten zur Auflösung des Staates Preußen eingeleitet. Das Gesetz war überflüssig, weil es Preußen nicht mehr gab. Aber Briten und US-Amerikaner wollten diesmal die Gelegenheit nutzen, die sie 1919 versäumten, nicht nur die Existenz Preußens auszulöschen, sondern möglichst auch die Erinnerung an Preußen, den Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten. Ein Deutschland ohne Preußen war für die meisten Deutschen überhaupt keine Zumutung. Sie zogen sich in ihre Heimaten zurück, in deutsche Lande, in denen sie sich von dem unheimlichen, von Preußen geschaffenen Deutschland erholten. Nach tumultösen Umwegen waren die Deutschen wieder dort angelangt, von wo sie einmal ungeduldig aufgebrochen waren, um alles hinter sich zu lassen: im Reichsmarktflecken Kuhschnappel oder der Grafschaft Pumpernickel, also in Krähwinkel. Das schloß gar nicht aus, das Bruttosozialprodukt und den Export ununterbrochen zu steigern. Philistrosität, Wirtschaftskraft und Gemütlichkeit vermählten sich wie einst im meistersingerlichen Nürnberg. Ohne Preußen wurden deutsche Lande wieder zur Provinz. Es war einmal Preußen gewesen, das die isolierten, schlafmützigen und ängstlich-verträumten Deutschen in große Zusammenhänge versetzte und zu einer Nation verband. Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam, wie Goethe, der in der Enge der Freien Reichsstadt Frankfurts litt, stets dankbar bemerkte, von Friedrich des Großen Taten im Siebenjährigen Krieg. Preußen, die Sachwalter Goethes und Schillers, die Berliner Romantiker und die mit beiden verbundenen Philologen, Historiker und Philosophen vermittelten den Deutschen eine Vorstellung von sich als Kulturnation. Diese weite Idee überwölbte auch später noch die engere Staatsnation seit 1871. Preußen, das zuerst die Österreicher im Siebenjährigen Krieg als raubgierige Militaristen schilderten, die den Frieden Europas bedrohten, hatte sich auch als eine geistige Macht erwiesen. Als solche wurde es übrigens damals auch von den Engländern und US-Amerikanern wahrgenommen. Der Franzose Victor Hugo verwarf 1845 Österreich als Deutschlands Vergangenheit: „Preußen ist seine Zukunft“. Es übernimmt die Rolle in Deutschland, die Frankreich in Europa zufällt, zu befreien und zum Menschen zu bilden. „Frankreich und Deutschland sind im wesentlichen ganz Europa. Deutschland ist das Herz, Frankreich der Kopf.“ Gemeinsam müßten sie sich – pikanterweise – gegen das egoistische England wehren, welches die Freiheit nur als Privileg oder Spleen vereinzelter Aristokraten kennt, oder gegen die geistlosen US-Amerikaner, die den Menschen auf den Verbraucher reduzieren. Mit solchem Enthusiasmus konnte auch einmal von einem preußischen Deutschland als europäischer Hoffnung geredet werden. Die Sachen zu verstehen, heißt sie zu komplizieren, sie in mannigfachsten Beziehungen in dieser Welt als Geschichte zu sehen mit ihrer nie vollständig zu erkennenden Wahrheit. Die Weisheit des großen Historikers und Kirchenvaters Augustinus, daß in der Geschichte „alles eben darum in einer Art wahr ist, weil es in einer Art falsch ist“, bestätigt sich eindrucksvoll am Wandel der Einschätzung Preußens. Selbst die entschlossensten Verächter Preußens können nicht nur die Klischees von 1947 wiederholen. Diese langweilen längst und werden von einer lebhaften Neugierde auf Preußen verdrängt und entkräftet. Das ist eine Folge der Wiedervereinigung. Denn wohl oder übel ergänzten sich die Bruchstücke des von Preußen geschaffenen Deutschland zu einer neuen Einheit auf alten Grundlagen. Ein anderes Deutschland ließ sich vielleicht ersinnen, aber nicht verwirklichen, weil dafür eine breite Zustimmung fehlte. Dadurch wird diese noch ganz unbestimmte Berliner Republik nicht preußischer. Sie empfängt aber eine vertiefte Perspektive durch eine erweiterte Geschichte. In der BRD wurde andächtig die Erinnerung an den Rheinbund und süddeutsches Brauchtum gepflegt. Das „Dritte Deutschland“, das zwischen Österreich und Preußen gelagerte, sollte sich gleichsam in dem neuen Deutschland Bundesrepublik vollenden, das sich damit als ein altes, doch weniger problematisches erwies. Bayern oder Baden wuchs deshalb eine ungeahnte Bedeutung zu, die sie niemals besaßen. In der DDR wich man nie so entschieden der preußischen Herkunft aus. Schließlich waren Marx und Engels bewußte Preußen. Ihr Sozialismus, ihre historisch-dialektische Methode konnte damals nur in Berlin entwickelt werden. Der Marxismus gehörte zu den weltweit wirksamsten Gedanken, die von Preußen ausgingen. Ein Preußen ohne Lassalle, Marx und Engels würde nur plakativ noch nicht überwundene bürgerliche Vorurteile bestätigen. Das Preußen des lutherischen Pietismus, der Aufklärung, der bürgerlichen Klassik, der unbürgerlichen Romantik, der liberalen Reformen und der kapitalistischen Beschleunigung ließ sich als jeweils notwendiger Fortschritt auf dem Weg zum Sozialismus verstehen und anerkennen. Aus dieser Vergangenheit nun winken wie mit Zauberhand Gedanken, Ideen, Kunstwerke, die während der wechselnden Metamorphosen der Gesellschaft immer wieder eine überraschende Gegenwart gewinnen können. Die geistigen Formen überdauern Zusammenbrüche und Untergänge. Gerade weil Preußen so fern liegt wie das antike Rom, läßt es sich als geistige Form so nahe rücken. Was Preußen auszeichnete, das hatten auch andere Staaten. Aber am preußischen Beispiel kann man idealtypisch den Beamten, den Offizier, den Professor oder die großen Abstracta Staatlichkeit und Staatbürgerlichkeit veranschaulichen. Preußen ist also ein Modell, um die Welt von vorgestern zu begreifen. Nicht zuletzt, weil es das große Laboratorium des wissenschaftlich-experimentierenden Bürgertum war, durchaus auch in der Absicht, eine andere Gesellschaft mit einem anderen Menschen zu ermöglichen. In diesem Sinne findet Preußen wachsende Aufmerksamkeit. Eine Angst vor Preußen hat sich erledigt. Es ist nur noch Geschichte, so daß mittlerweile die Brandenburger mit ihren Erinnerungen harmlos spielen können wie die Bayern – ohne selbst geistige Bonner, die aus Gewissensgründen Preußen ablehnten, noch in Schrecken versetzen zu können.