Sechs Jahrzehnte nach der Errich tung von Gulag-Außenstellen auch auf deutschem Boden, unter kalter Nutzung der noch vom Leichengeruch und Opferblut kontaminierten NS-Konzentrationsstätten, mit den letzten Überlebenden dieser einst westlichsten Lager des Stalinschen Massenverfolgungs- wie -vernichtungssystems zusammenzutreffen, bedeutet nicht nur, Dankbarkeit zu vernehmen angesichts der Tatsache, jene düstere Lagerwelt überlebt zu haben oder, wie meine Generation, ihr gar nicht erst ausgeliefert gewesen zu sein. Ebenso bedeutet es nicht nur, im Zeugenbekenntnis der Überlebenden die Stimmen all derer mit zu hören, die jene Lager nicht lebend verließen oder wenn, dann seelisch und körperlich ruiniert. Wieder andere wurden schlicht stumm vor erfahrenem Schrecken. Schließlich bedeutet es auch nicht, aus dem Verschwinden des Gulag Systems am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber seiner historisch-politischen wie ideologisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen, quasi ein geschichtliches, weltgeschichtliches Aufatmen ableiten zu können, das heißt: eine anthropologische Perspektive, die sich ihrer humanen Möglichkeiten insofern bewußt ist, als sie ihre inhumanen Möglichkeiten über das Reservoir des empathischen Bewußtseins für die Opfer aller politischen Gewaltsysteme ins praktisch Un-Mögliche verweist. Auch diese pädagogische Erlösungsidee hat nun zum wiederholten Male ihre Auflösung erfahren: zuletzt in den Blutseen jüngster Massenmordaktivitäten aus politischen Gründen – ob in Afrika oder Südosteuropa, aber gelegentlich unter voyeurhafter Beobachtung von militärisch gewandeten Bürgern des, wenn es darauf ankommt, offenbar nur scheinzivilisierten Westens. Was es jedoch vor allem bedeutet, ist: Täglich, besonders in Deutschland und hier primär auf der Ebene von Geschichtspolitik in Wissenschaft, Parteien, Medien und im Rahmen juristischer Winkelzüge, der kalten Provokation asymmetrischer Empathie für das am eigenen Leib erfahrene Unrecht und Leid zu begegnen. Asymmetrische Empathie bedeutet in diesem Kontext und im Vergleich mit den Opfern des NS-Systems: ungleiche Empfindungskraft für die Leiden von Millionen und Abermillionen Opfern des Gulag-Systems, das, wie wir heute präziser wissen als je zuvor, eben keine Abweichung vom kommunistischen Weltreinigungs-Entwurfs war, sondern immer nur seine logische Endkonsequenz – so logisch, wie der rassenmörderische Weltreinigungs-Versuch des NS-Systems und seiner Lager-Gestalt, für die Auschwitz den lokal einkreisbaren und empirisch auf schrecklichste Weise gesättigten Generalbegriff geliefert hat. Die 68er-Generation und der selektive Pseudo-Humanismus Es geht bei diesem Befund natürlich nicht um jene antifaschistischen Gulag-Leugner und -Verharmloser westdeutscher Linksradikalität, die sich nach 1989 mit den kryptostalinistischen Phalanxen der untergegangenen SED-Diktatur trafen, um zunächst nur eine mentale, inzwischen aber wieder organisatorische Fusion einzugehen – sie sind nur die Fundamental-Entsprechung zum Auschwitzleugnertum neonazistischer Provenienz. Beide Ignoranz-Phänomene aus den Abgründen menschlicher Trotzphantasien, ideologischer Fanatikdispositionen und sozialer Demütigungsgefühle sind gesellschaftlich jedenfalls über erkennbar und schon deshalb ohne gravierende Einflußmöglichkeit auf den gesamtgesellschaftlichen Bewußtseinsprozeß. Es geht vielmehr um jenen selektiven und deshalb Pseudo-Humanismus, der sich im Zuge des 68er-Marsches durch die Institutionen der Bundesrepublik Deutschland vor allem im wissenschaftlich-universitären Raum, in politischen wie konfessionellen Bildungseinrichtungen, in Medien und Parteisprachregelungen ausgebreitet hat und manifest geworden ist. Die Konsequenzen dieses ungleichen Empfindens den unschuldigen Opfern der totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber sind inzwischen erklärtermaßen Politik – Gedenkpolitik, die sich zugleich in hoch symbolisierter Gestalt als konstitutive Staatspolitik gefällt. So hat der einst führende Linksextremist der sogenannten Frankfurter Sponti-Szene – ein zelluloid-überführter Gewalttäter gegen den demokratischen Rechtsstaat und Arafat-Applaudierer auf antiisraelischem PLO-Terrain -, der heutige Außenminister der Republik Joseph Fischer, „Auschwitz“ mehrfach zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland erklärt. Solche definitorische Umwidmung des größten politischen Schandflecks der deutschen Geschichte in einen kollektive identitätsstiftenden Mythos ist im Kern natürlich nichts anderes als Ausfluß eines sadistischen Charakters und auf so absurde Weise böse, daß es nicht ohne öffentlichen Widerspruch geblieben ist, zuletzt massiv formuliert vom Historiker Hans-Ulrich Wehler. Aber wirksam ist es eben auch – so sehr, daß im Juni diesen Jahres Knut Nevermann, Ministerialdirektor bei der Kulturstaatsministerin der Bundesrepublik Deutschland, glaubte, auf einer Tagung der Landesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, zu der auch zahlreiche Opferverbände aus Deutschland und osteuropäischen Staaten geladen waren, von solch geschichtsideologisch überhöhter Plattform aus Überlebenden des Gulag-Systems sowie politisch schwer Verfolgten der SED-Diktatur ungeniert die für ihn daraus resultierende Logik einer Opfer-Hierarchie zumuten können: „Wer nicht weiß, daß es einen Unterschied macht, ob ich gegenüber einem jüdischen Volk über Entschädigung nachdenke oder über Opfer in der DDR, wer das nicht weiß…, der tut mir leid. Das ist das kleine Einmaleins der politischen Kultur der Bundesrepublik, daß man dort Unterschiede macht.“ Nevermanns kleines „Einmaleins der politischen Kultur der Bundesrepublik“ ist nichts anderes als ein großes moralisches Armutszeugnis der Generation der 68er, der er sich expressis verbis zugehörig fühlt. Es ist zugleich ein makabres Reifezeugnis in barbarischer Gefühlskälte und ideologisch motivierter Abblock-Mentalität und damit Formel für die nicht erst in dieser Äußerung sichtbar gewordene ethisch regressive Entwicklung der politisch-sittlichen Grundverfaßtheit des wiedervereinigten Deutschlands. Denn Nevermann, wie alle ideologischen Opfer-Sortierer der mindestens wissensinstitutionell seit Jahrzehnten gekaperten Republik, die heute den geschichtspolitischen Verfälschungs-Ton nicht nur angeben, sondern per Gesetz zu exekutieren versuchen, kann wissen, was Stalinismus auf deutschem Boden praktisch bedeutet hat – das nämlich, was er überall in Osteuropa und Rußland bedeutete: Massenverfolgung und Massenmord an unschuldigen Menschen durch die Häscherkommandos und Folterknechte des NKWD unter organisatorischer Führung von Lawrentij Berija: Von 1938 bis 1953 Volkskommissar für innere Angelegenheiten der UdSSR und Generalkommissar der Staatssicherheit, Stalins Himmler und Heydrich zusammen. Die Ur-Befehle aus dem Jahre 1945, die zu Errichtung der sowjetischen Lager auch in Deutschland führten, darunter des Speziallagers Nr. 7 hier in Sachsenhausen, tragen seine Unterschrift. Wie intensiv das Verhältnis zwischen Berija und Stalin war, das einzig dem Zweck diente, wahllos und massenhaft Opfer zu produzieren, um via totalem Schreckenseffekt totale Selbst- und Mit-Herrschaft zu sichern, beschreibt der britische Historiker Donald Rayfield in seiner von ungeheuerlichen Verbrechens-Fakten aus russischen Archiven erfüllten Studie „Stalin und seine Henker“ mit den Sätzen: „Von September 1938 bis zu Stalins Tod gab es nur selten Phasen, in denen Berija und Stalin sich nicht wenigstens zweimal pro Woche trafen – häufig täglich. Anfangs dauerten die Sitzungen knapp eine Stunde; im Frühjahr 1939 sprachen die beiden einmal zwei Stunden lang miteinander. 1940 schloß Berija sich manchmal von sechs Uhr abends bis um fünf am nächsten Morgen mit Stalin ein. Selbst nach 1949, als Stalin 70 war und weniger Menschen traf, besuchte Berija ihn noch jede Woche zwei Stunden.“ Das auf alarmierende Weise Interessante an der Rezeption von Büchern wie das von Rayfield in der Bundesrepublik, zu denen, ebenfalls aus jüngster Zeit, Titel hinzugezählt werden müssen wie „Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936 bis 1956“ von Meinhard Stark, „Der Gulag“ von Anne Applebaum, „‚Archipel GULag‘: Stalins Zwangslager Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant“ von Ralf Stettner oder der voluminöse Bildband „Gulag“ des polnischen Fotografen und Journalisten Tomasz Kizny – allesamt in hoch seriösen Verlagen einschließlich der Hamburger Edition des Instituts für Sozialforschung von Jan Philipp Reemtsma erschienen -, das alarmierend Interessante daran ist die offenbar vollkommene Resistenz der Nevermann, Fischer et alii, wenn es darum geht, aus dem publizistisch wie wissenschaftlich immer klarer und unbestreitbarer aufbereiteten Material über das älteste und am längsten wirksam gewesene totalitäre System des zwanzigsten Jahrhunderts und seine Massenverbrechen gegen jedes Gesetz der Menschlichkeit, jede humanistische Norm, jede sittliche Empfindung jene philosophischen und politischen Schlußfolgerungen zu ziehen, die den besten Dichtern und Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts noch selbstverständlich waren. Hemmungslose Durchsetzung eines Vergleich-Verbotes Ja, es scheint sogar so zu sein, daß sie immer hemmungsloser versuchen, aus dem empirisch immer zwingender werden Vergleichs-Gebot, was die beiden großen totalitären Schreckenssysteme des zwanzigsten Jahrhunderts betrifft, ein justitiables, von Geheimdienstaktivitäten flankiertes Vergleichs-Verbot flächendeckend durchzusetzen, so daß inzwischen jenen historischen Stoff mit intellektueller Redlichkeit reflektierende oder berichtende Bücher selbst von Philosophen wie Karl Jaspers, Hannah Arendt, Tzvetan Todorov oder Jean-Michel Chaumont, von Dichtern wie Alexander Solschenizyn, Joseph Brodsky oder Gustaw Herling, von Historikern wie Allan Bullock oder Andrzej J. Kaminski, Politik- und Sozialwissenschaftlern wie Eric Voegelin, François Furet, Karl Dietrich Bracher oder der Experten-Gruppe um Stéphane Courtois und Nicolas Werth, schließlich von Zeitzeugen wie Margarete Buber-Neumann zu inkriminierbaren Lektüren werden. Denn sie alle, und es sind ja nur wenige von vielen, die man nennen müßte, kommen über den Vergleich zur Erkenntnis identitärer Strukturmerkmale beider Systeme, die im übrigen auf radikale Weise den Begriff des Sozialismus verinnerlichten. Karl Dietrich Bracher hat an diesem Punkt die Einsicht festgehalten: „So verschieden die Richtungen, Formen und Inhalte des Sozialismus in aller Welt sind und so betont sich der nationale Sozialismus als Gegenprinzip zum Marxismus versteht, so verwandt ist er in seinen totalitären, antiliberalen Zügen und in der Tendenz, den Menschen zu organisieren und zu reglementieren..“ Die moralische Schlußfolgerung aus solchem Vergleichen, das Differenzen nicht verschweigt, erst recht aber nicht künstlich erweitert, um daraus machtpolitischen Spielraum zu gewinnen, hat Hannah Arendt in ihrem bahnbrechenden Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ gezogen: „Die Gaskammern des Dritten Reichs und die Konzentrationslager der Sowjetunion haben die Kontinuität abendländischer Geschichte unterbrochen, weil niemand im Ernst die Verantwortung für sie übernehmen kann. (…) Es ist die Aufgabe der historisch-politischen Wissenschaften, diesen Ereignissen nachzugehen und festzustellen, mit welchen Mitteln und in welchem Funktionszusammenhang sie ins Werk gesetzt wurden.“ Hannah Arendts Aufforderung aus dem Jahre 1951, den Doppel-Blick auf das Phänomen Totalitarismus zu lenken, hat in Deutschland lange eine gegenläufige, konsequent ins Einäugige reichende Entwicklung genommen. Was hier geschah und mit welchen Konsequenzen hat der Osteuropa-Historiker Ralf Stettner in seiner schon erwähnten, 1996 erschienenen grundlegenden Studie über den „‚Archipel GULag'“ als „Terrorinstrument und Wirtschaftsgiganten“ mit nüchterner Kompromißlosigkeit erfaßt: „Während das Konzentrationslager-System des nationalsozialistischen Deutschlands intensiv untersucht worden ist und wird, offenbaren sich dem Historiker bei der Arbeit über das Lagersystem der Sowjetunion erstaunliche Lücken in der Forschungsarbeit. (…) Für die deutsche Osteuropa- und Sowjetunionforschung trifft dies in noch höherem Maße als für die britische, amerikanische und französische Wissenschaft zu. Sie hat sich zu dem gesamten Themenkomplex der Terrormaßnahmen und des Lagerapparates zur Stalinzeit bis zum heutigen Tag sehr stark zurückgehalten. In den deutschsprachigen Gesamtdarstellungen zur sowjetischen Geschichte wird der GULag meist nur im Zusammenhang mit dem Terror 1936 bis 1938 erwähnt, findet aber nur selten eine Berücksichtigung, die seiner politisch-herrschaftssichernden, wirtschaftlichen und siedlungspolitischen Bedeutung entspräche. (…) In der schlechten Quellenlage ist jedoch nicht der einzige Grund für diese Vernachlässigung und die daraus resultierende Verharmlosung des sowjetischen Terrorsystems zu sehen. Der kommunistische Terror wurde von den Totalitarismusforschern als konstitutives Element der sowjetischen totalitären Diktatur erkannt und angeprangert. Die vierziger und fünfziger Jahre waren die Hochzeit der GULag-Forschung. Jedoch gewann zunehmend eine relativistische, bisweilen geradezu apologetische Geisteshaltung in westlicher Forschung und noch mehr in der Öffentlichkeit die Oberhand. Die vielen Häftlingsberichte, Untersuchungen und publizistischen Äußerungen, besonders der vierziger und fünfziger Jahre, wurden seit den sechziger Jahren eher als Produkte des „Kalten Krieges“ denn als Informations- und Anklageschriften gegen ein totalitäres Regime verstanden (…) Es herrscht bis heute Unkenntnis über die Motivation des Terrors und die Gesamtzahl der Opfer. Kommunistischen Verbrechen gegenüber war und ist man teilweise noch heute in weiten Teilen der westlichen Gesellschaft nachsichtiger.“ Republik der Leid-Selekteure und Opfer-Sortierer Stettners Befund ist ebenso unbezweifelbar wie empörend, bedeutet er ja nicht nur die Weigerung, einen brisanten historischen Stoff mit der gebotenen Intensität aufzugreifen, er bedeutet zuerst und zuletzt auch die bewußte Verschüttung von historischem Wissen durch ideologisch motivierte Entwertungsverfahren, indem die Zeugen des Gulag-Verbrechens zu Agenten antisowjetischer Politik gemacht wurden und damit unglaubwürdig werden sollten. Damit aber wurden die Opfer Stalins und seiner osteuropäischen Satrapen ein weiteres Mal zu Opfern, indem man ihnen nicht nur ihre Würde zu nehmen versuchte, man bestritt auch noch ihre Erfahrung. Die offene und verdeckte Opfer-Hierarchisierung, wie sie sich in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zu einer Art Staatsräson entwickelt hat, hat hier ihren entscheidenden historischen Grund, zu dem aber noch ein weiteres Element gehört, auf das der Philosoph Peter Sloterdijk eben in einem Interview über die 68er-Republik mit dem Magazin Focus aufmerksam gemacht hat: „Daß massivste ideologische Manöver des Jahrhunderts bestand ja darin, daß der linke Faschismus nach 1945 den rechten lauthals anklagte, um ja als dessen Opponent zu gelten. In Wahrheit ging es immer nur um Selbstamnestie. Je mehr die Unverzeihlichkeiten der Untaten von rechts exponiert wurden, desto mehr verschwanden die der Linken aus der Sichtlinie. In dem Zusammenhang muß man die Mao-Plakate über den Köpfen der Revoltierenden von damals verstehen. Die radikale Linke hatte sich selbst die Absolution erteilt, und die Ikone Mao war ein Garant ihres Verständnisses für den guten Terror. Die Zersetzungsprodukte dieser Hyperlüge gehen uns bis heute auf die Nerven.“ Einen dritten Aspekt erwähnte kürzlich in einem Spiegel-Gespräch der Publizist Joachim Fest, indem er prononciert feststellte, daß das Interesse der 68er an der NS-Vergangenheit erst dann geweckt wurde, „als sie erkannten, daß sich die Nazi-Zeit instrumentalisieren ließ, um Angehörige der älteren Generation aus ihren Posten zu drängen“. Deutschland wird auf vielen Ebenen und in zahlreichen Institutionen von Leuten beherrscht, die aus dieser Hyperlüge ihre Lebenslüge gemacht haben. Der engste Berater des amtierenden Außenministers, der kürzlich entschieden hat, ehemaligen NSDAP-Mitgliedern des Auswärtigen Amtes, die später der Bundesrepublik Deutschland gedient haben, im Falle ihres Ablebens ehrende Nachrufe zu verweigern, heißt Joscha Schmierer. Schmierer war bis zu Beginn der 80er Jahre Vorsitzender des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands, jener K-Gruppe also, die sich besonders enger Beziehungen zum Regime des kambodschanischen Massenmörders Pol Pot rühmen durfte. Die machtpolitische Figuren-Konstellation Fischer-Schmierer, von der man den einen, der sich gern als ins Zivilisatorische Gewandelter gibt, immer sieht und den anderen nie – diese Konstellation ist der kaderpolitische Garant dafür, daß wir uns mit unseren Biographien inzwischen in und gegen eine Republik der Opfer-Sortierer und Leid-Selekteure behaupten müssen. Deren ideologische Roheit unter dem dünnen Deckmantel proklamierter geschichtspolitischer Sensibilität reicht bis in die museale Gestaltung auch des ehemaligen sowjetischen Speziallagers Nr. 7, die sich mit der erzwungenen Randlage decouvriert als ein Marginalisierungs-Konzept aus dem Ungeist der Opfer-Hierarchisierung – wie bewußt oder unbewußt auch immer. Wie moralisch abgrundtief abwegig das ist, beweist uns, stellvertretend für viele, die Erinnerung eines der Opfer dieses Lagers aus dem Archipel Gulag. Gisela Gneist, geborene Dohrmann, gebürtig 1930 in Wittenberge, dort verhaftet am 29. Dezember 1945 und am 9. Februar 1946 vom Sowjetischen Militärtribunal in Brandenburg/Havel wegen „staatsfeindlicher konterrevolutionärer Verbrechen“ zu zehn Jahren Arbeits- und Erziehungslager verurteilt, gibt jedem, der es wissen will, zu Protokoll: „In Sachsenhausen waren wir in der II. Zone in Baracken eingesperrt. Ab November 1946 wurde die Verpflegung halbiert, 300 Gramm Brot und Wassersuppe, die fast immer kalt war, weil die Wachposten die Barackentüren nicht aufschlossen, damit wir sie hereinholen konnten, mußten ausreichen. Toilettenartikel gab es nicht. Geheizt wurden die Baracken selten, darüber hinaus waren sie völlig verwanzt. Im Sommer 1947 hatte ich einige Wochen Arbeit, auf der Fläche zwischen den Baracken wurden Tomaten angepflanzt, deren Pflege übernommen werden mußte. Langes Appellstehen auch bei Kälte und Schnee steigerten die Unerträglichkeiten. In der I. Zone konnten wir uns ab Sommer 1948 innerhalb des Frauenbataillons frei bewegen, die Verpflegung war wieder etwas besser geworden, 450 Gramm Brot und Wassersuppe. Seit 1948 war ich Melderin im Frauenbataillon. Gelegentlich gab es Theaterbesuche getrennt von den männlichen Mitgefangenen. Als Schlaflager dienten zweigeschossige Betten mit Strohsäcken. Besuche waren nach wie vor nicht vorgesehen. 1949 konnten wir die erste Nachricht an unsere Angehörigen schicken und Post erhalten.“ Angesichts solcher Erinnerungen und ihrer Faktenbasis kommt der französische Philosoph Tzvetan Todorov in seiner berühmten vergleichenden Reflexion über die Konzentrationslager im Totalitarismus des zwanzigsten Jahrhunderts, die den Titel „Angesichts des Äußersten“ trägt, zu dem Fazit: „Doch die Lager sind nicht bloß deshalb ähnlich, weil sie für die beiden totalitären Gesellschaften denselben Stellenwert haben, es gibt auch ganz unmittelbare Berührungspunkte, eine Art Nachahmung und Konkurrenz. Einmal mehr läßt sich hier Hitler von Stalin inspirieren; Rudolf Höß berichtet: ‚Vom RSHA wurde dem Kommandanten eine umfangreiche Berichtzusammenstellung über die russischen Konzentrationslager überreicht. Von Entkommenen wurde darin über die Zustände und Einrichtungen bis ins einzelne berichtet. Besonders hervorgehoben wurde darin, daß die Russen durch die großen Zwangsarbeitsmaßnahmen ganze Völkerschaften vernichteten.‘ Aber umgekehrt macht sich auch Stalin Hitlers Erfahrung zunutze, ja er geniert sich nicht, die Tore von Buchenwald, Sachsenhausen sowie anderer deutscher Lager sofort wieder zu öffnen, nachdem der letzte Insasse sie gerade verlassen hat, um dort aufs neue alle Regimegegner zu internieren, unter anderem Nazis, aber auch andere Nichtkommunisten – darunter eine gewisse Anzahl ehemaliger Häftlinge. Man schätzt die Zahl dieser neuen Häftlinge der alten Lager auf 120.000, von denen etwa 45.000 ums Leben kamen: teils wurden sie erschossen, teils starben sie an den Folgen von Hunger, Krankheit und Erschöpfung.“ Die ungleiche Aufarbeitung ist ein deutsches Phänomen Was aber bedeutet dieses vergleichende Sehen und Erarbeiten einer ungeteilten Empathie für die Opfer der totalitären Regime der National- und International Sozialisten wirklich? Das heißt: Worauf kommt es beim wissenden Gedenken ihrer Leiden an, worauf zielt es in letzter Konsequenz? Eine große, ermutigende Antwort darauf hat der spanische Schriftsteller Jorge Semprun – Ex-Kommunist und Ex-Häftling des NS-Lagers Buchenwald – auf der Gedenkveranstaltung zum sechzigsten Jahrestag der Befreiung dieses Lagers durch amerikanische Truppen gegeben: Der „kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen“ gewesen sei -, könne, so Semprun, „kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden“. Das aber würde „zum einen bedeuten, daß wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, daß Rußland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.“ Die „halbseitige Lähmung“, von der Semprun gesprochen hat, ist vor allem ein deutsches Phänomen. Es geht also um einen weiteren geistigen Gesundungsprozeß dieses Landes, dessen diesbezügliche Pathologie allerdings eher ein Merkmal seiner Funktions-Eliten in Bildung, Politik und Medien ist. Aber vielleicht macht gerade das ja – seiner macht pathologischen Aspekte wegen – die Schwierigkeiten des notwendigen Heilungsprozesses aus. Bis dahin kann deshalb die durch uns zu verabreichende Medizin ebenso notwendig nur bitter sein. Ulrich Schacht am 13. August bei seiner Rede „Wider die Republik der Opfer-Sortierer“ in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen: Ulrich Schacht, Jahrgang 1951, studierte Evangelische Theologie, Politikwissenschaft und Philosophie. Von 1984 bis 1988 war er Feuilletonredakteur bei der Tageszeitung „Die Welt“, danach bis 1998 Leitender Redakteur der „Welt am Sonntag“. Heute lebt er als Schriftsteller in Schweden. Seine politisch wichtigsten Publikationen waren die „Hohenecker Protokolle“ (1984) sowie die mit Heimo Schwilk herausgegebenen Sammelbände „Die selbstbewußte Nation“ (1994) und „Für eine Berliner Republik“ (1997).
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