Es sei eine Schicksalswahl, die für den 18. September anberaumt ist, so tönt es aus dem Munde der Politiker. Um das Zentrum der Krise, das Thema eines ernsthaften „Schicksalswahlkampfes“ sein könnte, wird aber ein Bogen gemacht: der Niedergang unseres Volkes durch anhaltenden Geburtenrückgang seit 30 Jahren. Allenfalls am Rande wird ein wenig über die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ gesprochen. Eine ernsthafte Debatte über die Abwendung dieses Niedergangs findet nicht statt, es werden keine Maßnahmen in Aussicht gestellt, die an dieser Entwicklung gravierend etwas ändern könnten. In der letzten Woche publizierte das private Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Studie (siehe ausführlicher Bericht auf Seite 5) mit dem alarmierenden Titel: „Mehr Kinder – am besten sofort!“ Das Institut will damit das existentielle Thema offensichtlich doch noch in den Wahlkampf einführen. So mahnt es, daß den Frauen der geburtenstarken „Babyboom“-Generation der Jahrgänge bis 1970 lediglich ein „biologisches Zeitfenster“ von zehn Jahren bleibe, um selbst noch Kinder zu gebären. Danach nehme die Zahl der gebärfähigen Frauen dramatisch ab, so daß die Chance zur bevölkerungspolitischen Wende immer kleiner wird. Es ist offenkundig, daß sich Kinderkriegen nicht durch bürokratische Maßnahmen erzwingen läßt. Dennoch spiegelt das, was der Staat materiell fördert und unterstützt, die Hierarchie der Werte wider, die das Gemeinwesen leiten. Und Kinder gelten trotz aller anderslautenden Bekundungen eben primär als „Privatvergnügen“, und es gilt als inopportun, Familiengründung und das „Ja“ zum Kind offensiv, ja mit ähnlichem propagandistischem Druck zu forcieren, wie man beispielsweise für die Mülltrennung wirbt. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe konkreter familienpolitischer Sofortmaßnahmen, die ergriffen werden müßten, um den Abwärtstrend bei den Geburten zu stoppen: – Abschaffung des Ehegattensplittings. Es ist unsinnig, Ehepaare steuerlich zu begünstigen, wenn immer mehr Ehen faktisch kinderlos bleiben. Statt dessen muß das in Frankreich existierende Familiensplitting eingeführt werden, bei dem das Einkommen der Eltern zusammengezählt und durch die Anzahl der Kinder geteilt wird. Der steuerliche Vorteil macht sich besonders drastisch ab dem dritten Kind bemerkbar. – Abschaffung der Kindergartengebühren. Es ist Irrsinn, daß Eltern mit Kleinkindern in der Frühphase bei der Betreuung mit Gebühren belastet werden, während das Studium derzeit noch kostenlos ist. Weitere Ausgaben für Kinderbetreuung müssen für Eltern in vollem Umfang steuerlich absetzbar werden. – Die frühzeitige Familiengründung muß begünstigt werden, z. B. durch das in der DDR durchaus bewährte zinslose „Ehestandsdarlehen“ für Eheleute bis zu 30 Jahren. In der DDR betrug dies ab 1976 5.000 Mark, ab 1984 7.000 Mark. Die Rückzahlung konnte „abgekindert“ werden: 1.000 Mark wurden beim ersten, 1.500 beim zweiten und der Rest beim dritten Kind gestrichen. Ziel muß es jedenfalls sein, Erwachsene bereits Anfang Zwanzig zur Familiengründung zu ermutigen. Kinderbetreuung wird auch deshalb zunehmend zum Problem, weil die Frauen in höherem Alter erst gebären und damit auch die Großeltern dadurch immer älter sind, wenn sie Enkel bekommen. Großeltern, die 50 sind, können häufiger und länger auf Kinder aufpassen als solche, die bereits 70 sind. – Auch um frühere Familiengründung und früheren Berufseinstieg zu begünstigen, müssen die Ausbildungszeiten deutlich verkürzt werden. – Das System der Rentenversicherung muß verändert werden. Kinderlose müssen künftig in die Rentenversicherung mehr einzahlen als Eltern mit Kindern, da diese durch die Erziehungszeit zusätzlich belastet sind. Für den Erwerbstätigen macht sich dies sofort in Form verminderter Sozialversicherungsbeiträge bemerkbar, bei nichterwerbstätigen Müttern durch den Erwerb von Rentenansprüchen durch die Erziehungszeit. Alle diese Maßnahmen, die sich vor allem materiell auswirken, können eine bevölkerungspolitische Wende einleiten. Sie sind jedoch weitgehend wirkungslos, wenn sie nicht auch Ausdruck eines gesellschaftlichen Mentalitätswandels sind. Es gibt in Deutschland kein kinderfreundliches Klima. Das gesellschaftliche Leitbild, auch das von der Werbung überwiegend transportierte, ist das eines konsumfreudigen, reiselustigen Singles, der in erster Linie Karriere macht. Daß zum Lebensplan auch die Gründung einer intakten Familie mit Kindern gehört, dieses Leitbild ist schon seit längerem zerstört worden. Nicht zuletzt ist nach den Stürmen der Emanzipation die Rehabilitation der Mutterschaft notwendig. So blickt Deutschland – das sich in dieser Hinsicht kaum von anderen westeuropäischen Ländern unterscheidet – auf das Scheitern jener enthusiastisch begonnenen „gesellschaftlichen Projekte“ seit 1968, die in dieser zentralen Frage des Überlebens der Gemeinschaft zu Entsolidarisierung und galoppierendem Individualismus geführt haben. Wer wagt auch die Folgen der 1972 in der Bundesrepublik legalisierten Abtreibung zu thematisieren? Helle Empörung herrscht derzeit über eine Mutter in Frankfurt/Oder, die neun Kinder nach der Geburt umgebracht haben soll. Brandenburgs Innenminster Jörg Schönbohm mußte beinahe zurücktreten, nachdem er für einen bestimmten Werteverfall, der solchen Taten den Boden bereite, die „erzwungene Proletarisierung“ zu Zeiten der DDR verantwortlich gemacht hat. Wo bleibt aber das Entsetzen über die – einschließlich Dunkelziffer – rund 250.000 Kinder, die jährlich in Deutschland durch Abtreibung getötet werden? Wer glaubt, daß der demographische Tod eines Volkes eine historische Premiere wäre, eine Begleiterscheinung der industriellen Moderne und auch ihrer modernen Verhütungsmethoden, der irrt sich. Die demographische Krise als Vorbote des Untergangs eines Staates ist keineswegs neu. Schon vor zweitausend Jahren kämpfte die Führung des Römischen Reiches mit einem besorgniserregenden Bevölkerungsschwund. Kaiser Augustus, dessen Volkszählung jedem aus der Weihnachtsgeschichte bekannt ist, ergriff erste familienpolitische Maßnahmen, die hochaktuell sind: Kinderlose wurden steuerlich benachteiligt, hingegen Familien ab drei Kindern von der Steuer befreit, Männer im Staatsdienst mit drei Kindern oder mehr wurden schneller befördert, Kinderlosen hohe Ämter verwehrt. Dennoch gelang es Rom langfristig nicht, den demographischen Niedergang aufzuhalten. Das Ende des Römischen Reiches ist bekannt. Der kollektive Überlebenswille der Römer war offensichtlich erlahmt. Wie steht es mit den Deutschen?