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Marc Jongen, ESN Fraktion

Alles kann, nichts muß

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Man stelle sich einmal vor: Der Vorstand eines Vereins für Brieftauben-Sport beschlösse aufgrund nachlassender Mitgliederzahlen ein Maßnahmenpaket zur Nachwuchswerbung; darin hieße es, das dominante Interesse der vorhandenen Aktiven – also Wohl und Wehe der Brieftauben – sei die hauptsächliche Barriere bei der Gewinnung neuer Schichten für den Verein. Daher müsse dieses Hemmnis abgebaut werden, damit auch die Züchter von Kaninchen oder Cannabis-Pflanzen ihren Weg in den Brieftauben-Verein fänden. Ob die Basis diesen Beschluß goutieren würde? Mag das Beispiel weit hergeholt erscheinen – die beschriebene Vorgehensweise ist in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) Realität. Man reibt sich die Augen: In der vor einiger Zeit veröffentlichten Mitgliedschaftsstudie der EKD heißt es, die „dominanten Lebensstile der Kernmitglieder“ seien eine „Zugangsbarriere für stärkere Kirchenbindung“. Will sagen, die noch vorhandenen überzeugten Protestanten sollten weniger Einfluß auf das Klima der Kirche nehmen, damit neue „Schichten“ angesprochen werden könnten. Kirchliche Interessenwahrung solle über Beratungsangebote (etwa für Partnerschaft oder Kindeserziehung), Stellungnahme zu politischen Grundsatzfragen oder kulturelle Angebote vollzogen werden, anstelle durch Verkündigung oder Seelsorge – kurz: Kirche sollte weniger kirchlich sein! Ganz im Zeichen dieser Entwicklung steht auch der 30. Evangelische Kirchentag vom 25. bis zum 29. Mai in Hannover, der statt christlicher Richtungsweisung einen bunten „Markt der Möglichkeiten“ bieten will! Ganz nach dem Motto: „Bedient Euch, auf daß Ihr selig werdet“, kritisiert der bekannte ZDF-Nachrichtensprecher, Buchautor und bekennende Christ Peter Hahne, der deshalb bereits seine Teilnahme abgesagt hat. Sogar für die Bischöfin Margot Käßmann – sonst bekannt für ihre betont liberale Einstellung – ist der Auftritt des Fernsehpfarrers Jürgen Fliege, der nach eigenem Bekunden „nicht zum Gott der Bibel“ betet, kritikwürdig. Konservative Kritiker wie etwa der populäre ehemalige DDR-Jugend- und Widerstands-Pfarrer Theo Lehmann (siehe Interview Seite 3) sehen allerdings „zahllose Veranstaltungen, die in krassem Widerspruch zum Wort der Bibel stehen … Die Botschaft ist klar: Alle Religionen sind gleich. Wer da widerspricht, fliegt raus“. Die Lage des Protestantismus in Deutschland ist aber nicht nur „inhaltlich“ alarmierend, nicht weniger besorgniserregend ist die Situation, betrachtet man sie unter zahlenmäßigen Gesichtspunkten. Um annähernd 200.000 Mitglieder ging zuletzt die Zahl der Christen in der EKD jährlich zurück, in den vergangenen 30 Jahren verließen über fünf Millionen Mitglieder die Kirche. Im Jahr 2000 standen mehr als 330.000 kirchliche Bestattungen und fast 189.000 Austritte gut 230.000 Taufen gegenüber. Die demographische Struktur der EKD ist noch schlechter als die gesamtgesellschaftliche in Deutschland: Sie hat noch weniger Kinder und noch mehr Alte. Und dies gilt schon allein für die nominelle Mitgliederzahl – betrachtet man die tatsächlichen Gottesdienstbesucher, sieht es noch weit düsterer aus. Wäre das Aufkommen an Kirchensteuern an ihrer Zahl bemessen, wäre die finanzielle Lage der evangelischen Gliedkirchen noch weit dramatischer, als sie es ohnehin schon ist. In einer (ehedem protestantisch geprägten) deutschen Großstadt wie beispielsweise Hamburg ist nur noch gut ein Drittel der Einwohner Mitglied der evangelischen Kirche. Dadurch sanken in den vergangenen zehn Jahren die Einnahmen aus der Kirchensteuer um 40 Prozent. Wegen des Mangels an Geld und Gläubigen würde bald fast die Hälfte der bundesweit mehr als 20.000 evangelischen Kirchen und Kapellen nicht mehr für Gottesdienste benötigt werden, erklärte jüngst ein Oberkirchenrat dem Westfalenblatt. Die „Umnutzung“ für soziale oder kulturelle Zwecke halte man dabei für legitim, ebenso die „Umwidmung“ zugunsten anderer religiöser Gemeinschaften, etwa – bezeichnenderweise – sogar zugunsten muslimischer Träger. Neben den nackten Zahlen gibt die vollständige Auflösung des früher einmal bestimmenden „protestantischen Milieus“ Aufschluß über die Lage der Kirche. Ein letzter Restbestand dieser „bildungsbürgerlichen“ Erscheinungsform ist allenfalls noch in der Kirchenmusik erkennbar, wo Orgelkonzerte etwa mit Bachschen Werken (und nicht nur die sich ausbreitenden Gospelgottesdienste) die Kirchenbänke füllen. Die Mitglieder der Kirche sind längst auch keine einheitliche Gruppe mehr. Zwischen jenen, die die Kirche nur zu bestimmten Wegmarken wie Geburt oder Todesfall aufsuchen – den sogenannten „U-Boot-Christen“, die nur an Feiertagen auftauchen und kirchliche Luft schnorcheln -, und den aktiven Gemeindemitgliedern gibt es kaum noch Berührungspunkte. Auch das Phänomen des „protestantischen Pfarrhauses“ ist nahezu verschwunden. Die evangelische Pfarrerschaft hat die Säkularisierung oft nicht ohne Sympathie begleitet, sie zum Teil vorangetrieben. Bei politischen Stellungnahmen verfolgt die evangelische Kirche mehrheitlich die Tendenz, dem Konsens der säkularen Umwelt nicht zu widersprechen. Kennzeichnend für die protestantische Geistlichkeit ist es, „sich an intellektuelle Tagesmoden anzuschließen“, wie die FAZ unlängst kritisch bemerkte. Die eingangs erwähnte Studie nennt als Merkmale des Evangelisch-Seins Taufe und Konfirmation, die Achtung für die Freiheit anderer und die Befolgung eigener Gewissensentscheidungen. Daß solche „Bekenntnisse“ – abgesehen von den beiden ersten Punkten – auch der überwiegende Teil der Konfessionslosen unterschreiben könnte, wird von den Autoren ausdrücklich positiv bewertet und nicht als Anlaß zur Sorge aufgefaßt. Immerhin zeigen der jüngste Streit in Berlin um den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach und die von kirchlichen Würdenträgern vorgetragenen Bedenken gegen eine konfessionslose „Wertekunde“, daß wenigstens unter diesem Druck von außen ein (Rest-) Wille zur protestantischen Selbstbehauptung noch vorhanden zu sein scheint. Dahin verweist auch die Aussage des Ratsvorsitzenden der EKD, des Berliner Bischofs Wolfgang Huber, wonach „Dreh- und Angelpunkt kirchlicher Arbeit Gottesdienst und Gemeindearbeit bleiben“ müßten. Kirche ist nach reformatorischem Verständnis die „Versammlung der Gläubigen“ und nicht eine bürokratische Institution. Unabdingbar für eine Gesundung des Protestantismus in Deutschland ist ein Ende des herrschenden fatalen Mißverhältnisses: Die Gläubigen, nicht die Funktionäre, müssen wieder das Rückgrat der Evangelischen Kirche bilden.

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