BERLIN. Über hundert Vereine und Stiftungen haben Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dazu aufgerufen, das Gemeinnützigkeitsrecht zu reformieren. „Nur eine zügige Reform kann verhindern, daß in den nächsten Monaten immer mehr Vereine Probleme bekommen und sich zurückziehen“, betonten die größtenteils aus Ostdeutschland stammenden Initiativen in ihrem Appell am Montag.
Sie alle würden in ihrem Engagement durch das Gemeinnützigkeitsrecht behindert, erläuterten die Unterzeichner. Dies gefährde ihre Arbeit. „Wir bekommen Briefe vom Finanzamt, die die Gemeinnützigkeit anzweifeln, weil wir Demonstrationen organisiert haben.“ Die Behörden hätten zuletzt immer wieder die politische Schlagseite in der Vereinsarbeit beanstandet.
AfD geht gegen Stimmungsmache vor
Hinter den Anwürfen stecke dem Vereinsverbund zufolge die AfD, die gezielt „Bündnisse gegen Rechtsextremist*innen“ beim Finanzamt anschwärze. „Uns wird gesagt, daß es uns genauso ergehen werde wie Attac.“ Viele Initiativen dächten deswegen mittlerweile zweimal über „jede Aktion, jede Demonstration und jeden offenen Brief“ nach.
Hintergrund ist die Ankündigung der Alternative für Deutschland, die Prüfung der Gemeinnützigkeit anzustrengen, wann immer Vereine gegen die Partei agitieren. Auf diese Art und Weise wurden bereits Initiativen wie „München ist bunt!“, „Greenpeace“ und der Bayerische Flüchtlingsrat belangt.
Beispiel „Volksverpetzer“
Der Rechtstitel der Gemeinnützigkeit ist mit steuerlichen Vergünstigungen verbunden. Als „gemeinnützig“ gelten im Steuerrecht Vereine, die beispielsweise die Wissenschaft fördern, Denkmalschutz betreiben oder sich im Tierschutz engagieren. Initiativen, die diese Voraussetzungen erfüllen, müssen weder Körperschafts- noch Gewerbesteuer bezahlen. Die Einstufung erfolgt normalerweise durch das Finanzamt.
Auch das politisch links orientierte Portal „Volksverpetzer“ konnte sich lange Zeit als „gemeinnützig“ bezeichnen, verlor diesen Status aber im Mai. Die Website wurde daraufhin dazu verpflichtet, mehrere zehntausend Euro an Steuern nachzuzahlen. Der „Volksverpetzer“ hatte sich in der Vergangenheit immer wieder öffentlichkeitswirksam für das Verbot der AfD eingesetzt.
Ampel stockt nach Attac-Urteil bei Rechtsreform
Die Ampel hatte in ihrem Koalitionsvertrag ursprünglich angekündigt, der unsicheren Rechtslage rund um den Rechtstitel der Gemeinnützigkeit abzuhelfen. „Wir modernisieren das Gemeinnützigkeitsrecht, um der entstandenen Unsicherheit nach Gemeinnützigkeitsrechtssprechung des Bundesfinanzhofes entgegenzuwirken“, hieß es in dem 2021 erstellten Dokument.
2014 wurde diese der kapitalismuskritischen „Attac“-Initiative aberkannt. Der Schritt wurde 2019 vom Bundesfinanzhof in einem vielbeachteten Urteil bestätigt. Seither ist unklar, was als „gemeinnützig“ gilt und was nicht. Im September wird in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Sollte die AfD dort stärkste Kraft werden, befürchten viele der Vereine „gegen Rechts“ den Verlust der Steuerprivilegien. (fw)