Auf den ersten Blick wirkt es wie eine außenpolitische Angelegenheit: In der vergangenen Woche starb der türkische Politiker und islamische Gelehrte Fethullah Gülen im Alter von 83 Jahren in Pennsylvania in den Vereinigten Staaten, wo er seit 1999 im Exil lebte. Gülen war das Oberhaupt der nach ihm benannten Bewegung, die der Geistliche seit Ende der sechziger Jahre aufgebaut hatte. Sie umfaßt ein Netz von Bildungsstätten und Medienunternehmen und ist auch in Deutschland aktiv. Sie nimmt für sich in Anspruch, den Islam mit Demokratie, Bildung, Wissenschaft und interreligiösem Dialog zu verbinden. Lange Zeit wurde der bis zu vier Millionen Mitglieder zählenden Bewegung ein erheblicher Einfluß im türkischen Militär, in der Polizei und der Justiz zugeschrieben.
Gülen arbeitete eng mit dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan zusammen, bis es 2013 zum Bruch zwischen beiden kam. Nachdem Erdoğan Gülen 2016 bezichtigt hatte, hinter dem gescheiterten Militärputsch zu stecken, ließ der türkische Präsident die Anhänger der Gülen-Bewegung, die nun als Terrororganisation gilt, weltweit vom türkischen Geheimdienst verfolgen.
Türkische Machtkämpfe auch in Deutschland
Auch in Deutschland mit seiner großen türkischen Gemeinde ist die Gülen-Bewegung (Hizmet) seit Mitte der neunziger Jahre aktiv. Seit 2014 unter dem Namen „Stiftung Dialog und Bildung“. Der Bewegung werden hierzulande bis zu 150.000 Anhänger zugerechnet. Sie betreibt nach eigenen Angaben etwa 300 Vereine, Stiftungen, 22 Schulen, 150 Nachhilfezentren, etwa 3.000 Unternehmen sowie mehrere Nachrichtenportale, Verlage und andere Medien.
„Fethullah Gülen widmete sein Leben den Werten des Friedens, des Dialogs und der Menschlichkeit. Als spiritueller Mentor motivierte er weltweit Menschen zu einem Leben in Verantwortung, Bildung und gegenseitigem Verständnis“, heißt es zum Tod von Gülen auf der Internetseite der Dialog-Stiftung. „Seine Botschaft war eine, die Brücken baute – über Kulturen, Religionen und gesellschaftliche Schranken hinweg.“ Nach dem Bruch mit Erdoğan wuchs der Druck des türkischen Staates auch auf die Anhänger der Gülen-Bewegung in Deutschland.
Die türkische Regierung instrumentalisiere hiesige Lobby-Organisationen, etwa die Union Europäisch-Türkischer Demokraten UETD, aber auch die von der türkischen Regierung finanzierten Moscheeverbände Ditib und Milli Görüs für die Interessen Erdoğans, beklagte die Dialog-Stiftung bereits 2017 und sprach von einer „türkischen Hexenjagd“. Deutsch-türkische Familien würden unter Druck gesetzt, Geschäfte und Unternehmen boykottiert. „Die Bundesregierung muß die Demokratie verteidigen, auch gegen antidemokratische Kräfte in und aus anderen Ländern. Das Schweigen Deutschlands zum aktuellen Kurs der Türkei ist nicht akzeptabel“, forderte der Stiftungs-Chef Ercan Karakoyun.
Die Gülen-Bewegung ist autoritär aufgebaut
Unmittelbar nach dem Putschversuch waren die Auswirkungen auf die Gülen-Bewegung in Deutschland auch von Übergriffen geprägt. So wurden bei Schulen in Gelsenkirchen und Duisburg, die der Organisation nahestehen, die Fensterscheiben eingeworfen, auch zu körperlichen Übergriffen auf Anhänger der Bewegung soll es gekommen sein. Berichten zufolge horchten zudem Ditib-Imame im Auftrag Ankaras deutsche Gülen-Anhänger aus. Viele Eltern meldeten ihre Kinder von Gülen-nahen Schulen ab. Mehrere Schulen und Nachhilfezentren mußten in der Folge schließen.
Auch wenn eine Beteiligung der Gülen-Bewegung am Putsch in der Türkei nicht nachzuweisen ist und von dieser bestritten wird, gibt es auch in Deutschland schon seit Jahren Kritik an der Organisation. Immer wieder gibt es Berichte über sektenähnliche Strukturen des Netzwerkes. „Nach außen zeigt es sich als religiös-liberale Bildungsbewegung, nach innen aber ist es fanatisch“, berichtet ein Aussteiger der Süddeutschen Zeitung. Vor allem die Nachhilfeeinrichtungen und die Studentenhäuser würden genutzt, um Mitglieder für die Gülen-Bewegung anzuwerben, und dienten als Vorfeldorganisationen für den inneren, streng religiösen Zirkel.
Das deckt sich mit den Forschungen des Islamwissenschaftlers Florian Volm, der Zugang zu Funktionären der Gülen-Bewegung in Deutschland hatte und gegenüber der ARD von „autoritären Strukturen“ spricht. Seinen Erfahrungen nach gehe es intern nicht darum, die Basis der Bewegung in Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen oder Ideen und Lösungsvorschläge aufzunehmen. „Es geht darum, daß man unten Leute hat, Kinder, Jugendliche, Männer, Frauen, die einfach das umsetzen, was der Kader oben beschließt.“ Aussteiger berichteten in diesem Zusammenhang von einer Geheimorganisation innerhalb des Gülen-Netzwerks, die mit nachrichtendienstlichen Methoden vorgehen und auch in Deutschland aktiv sein solle.
„Konspirativ und mit strikter Hierarchie“
Bereits 2018 hieß es in einem Bericht des Auswärtigen Amtes zur Gülen-Bewegung, aus dem der Spiegel zitierte: „Der konspirative Teil der Bewegung zeichnet sich durch strikte Hierarchien aus und erinnert in seiner Struktur an Erscheinungsformen organisierter Kriminalität“, schrieben die Diplomaten. Der „Anspruch der Bewegung auf die Loyalität ihrer Mitglieder“ sei „absolut“. Vier Jahre zuvor hatte die Bundesregierung auf eine Anfrage der damaligen Linksfraktion mitgeteilt, es lägen ihr „unbeschadet einzelner problematischer Positionen“ keine Erkenntnisse vor, „daß die Fethullah-Gülen-Bewegung in der Gesamtschau Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verfolgt“. Kooperationen mit nahestehenden Organisationen und Verbänden würden „im Einzelfall und sachbezogen“ geprüft.
In diesem Jahr rangiert die Türkei mit 23.133 Erstanträgen auf Platz drei der Hauptherkunftsländer von Asylbewerbern. Daß dies auch mit verfolgten Gülen-Anhängern zusammenhängt, ist naheliegend, aber nicht eindeutig bezifferbar. „Auswertungen zu Asylverfahren von Gülen-Mitgliedern liegen nicht vor, da die Asylgründe, die Antragsteller im Rahmen ihrer Anhörung vortragen, beim Bundesamt statistisch nicht erfaßt werden“, teilte ein Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf Anfrage der jungen freiheit mit. Beim Asylverfahren handele es sich stets um eine Einzelfallprüfung, bei der „immer die individuell vorgetragene Fluchtgeschichte“ bewertet werde.
Das Verwaltungsgericht Augsburg hatte 2019 einer Klage gegen den ablehnenden Bescheid des Bamf in Teilen stattgegeben und festgestellt: „Eine Person, die der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, muß in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen.“