Die Einladung zur Krönung Karls III. am 6. Mai wurde üppig gerahmt. Den Text umgeben viele erwartbare Elemente – das Wappen des Königs wie der Königin, allegorische Tiere und Pflanzen –, aber auch ein unerwartetes und das an prominenter Stelle: „the Green Man“, der Grüne Mann. Es handelt sich um einen bizarren, grün gefärbten menschlichen Kopf, aus dessen Mund Blätter hervorgehen und den das Laub von Eiche, Efeu und Weißdorn umgibt; der Grüne Mann trägt außerdem eine Krone aus Blüten, die ein Bogen überwölbt, auf dem sich eine Eichel erhebt. Die Netzseite des Königshauses hält dafür folgende Erklärung bereit: „Im Mittelpunkt des Designs steht das Motiv des Grünen Mannes, einer alten Figur aus der britischen Folklore, die den Frühling und die Wiedergeburt symbolisiert, um die neue Herrschaft zu feiern.“
Daß es sich tatsächlich um eine „alte Figur“ handelt, die in irgendeiner Weise mit den Volksbräuchen Englands zusammenhängt, ist eher Vermutung als bewiesene Tatsache. Es gibt Autoren, die den Grünen Mann mit den Gestalten des „Maikönigs“ oder des „Jack in the Green“ verknüpfen (ein Mann, dessen Kostüm ihn ganz mit Blättern bedeckt). Andere glauben, daß die auf der Insel so populäre Verehrung des Heiligen Georgs an die Stelle der Verehrung eines heidnischen Vegetationsgottes getreten ist, denn der Georgstag liegt auf dem 23. April und wurde mancherorts als Frühlingsfest für den „Green George“ gefeiert.
Er gehört zu den eher versteckten Elementen
Tatsächlich hat man beim Anblick des Green Man immer den Eindruck, daß es sich um eine Figur aus der alten, vorchristlichen Welt handeln muß. Der häufig verschlagene Gesichtsausdruck – so freundlich wie auf dem königlichen Einladungsschreiben wirkt er sonst nie – erinnert an Pan, der sich im Busch verbirgt, und die grüne Farbe an Götter der Fruchtbarkeit wie Osiris, dessen Hautfarbe als grün vorgestellt wurde. Aber das Motiv des Gesichts im Laub – in Deutschland hat sich die Bezeichnung „Laubmaske“ eingebürgert – deutet doch eher auf eine spezifische Vorstellung. Mike Harding, von dem es ein schönes Buch über den Grünen Mann gibt (A Little Book of The Green Man, London: Aurum Press) hat jedenfalls zahlreiche Beispiele aus allen Ecken der Welt zusammengetragen, die dafür sprechen, daß der Green Man etwas wie ein Archetypus sein könnte.
Womit man aber einer präzisen Erklärung, was an ihm die Steinmetze und Holzbildhauer des Mittelalters gereizt hat, keinen Schritt näherkommt. Fest steht immerhin, daß der Green Man vornehmlich in Kirchen Großbritanniens zu finden ist. Er gehört allerdings zu den eher versteckten Elementen. Wenn sein Bild so prominent wie an den Säulen der Kathedrale von Llandaff, nahe Cardiff, angebracht wurde, wirkt das ungewöhnlich. Tatsächlich hat man es hier nicht mit der Originalausstattung zu tun. Vielmehr wurden die Grünen Männer, die die anglikanische Hauptkirche von Wales zieren, erst im Zuge einer Renovierung des 19. Jahrhunderts geschaffen.
Eine Frage der Ökologie
Die Gestaltung dürfte auf den Einfluß von künstlerischen Bewegungen wie dem Gothic Revival oder dem Arts and Crafts Movement zurückgehen. Deren Begeisterung für den Green Man war groß. Man verwendete ihn nicht nur als Ornament oder plastische Figur in der Architektur, sondern auch als Dekoration an Möbeln oder in der Graphik. Viel von seiner heutigen Bekanntheit verdankt der Grüne Mann Künstlern wie William Morris oder William Burges, die aber nicht nur von einem idealen Mittelalter träumten, sondern auch mit Unbehagen die Folgen der Industrialisierung für Mensch und Natur beobachteten und sich nach religiöser Erneuerung sehnten.
Impulse, die im britischen Geistesleben bis heute nachwirken und ihren Einfluß auch auf den König ausgeübt haben. Sie erklären seine viele überraschende Sympathie für die Geisteswelt der Orthodoxie oder die Gedankengänge des Traditionalisten René Guénon. Allgemeiner bekannt ist das Interesse, das er seit langem für Umweltfragen zeigt. Schon unmittelbar nach dem Regierungsantritt Karls wurde darüber spekuliert, ob aus dem „grünen Prinzen“ ein „grüner König“ werde. Wenn er sich entschieden hat, den Green Man so prominent symbolisch zu plazieren, wie jetzt geschehen, spricht viel dafür, daß ökologische Fragen in der kommenden „carolinischen“ Ära eine wichtige Rolle spielen sollen.