Nach rund zwei Jahren Corona-Pandemie zieht der Deutsche Ethikrat unter dem Vorsitz von Alena Buyx ein Fazit der Corona-Maßnahmen. Der entsprechende Bericht umfaßt 161 Seiten und hört auf den Namen „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise – Ethische Kriterien für Entscheidungen in einer Pandemie“. Er thematisiert unter anderem die verschiedenen Phasen der Pandemie, die Schutzmaßnahmen, den Krisentest für Institutionen, politische Entscheidungen und ethische Abwägungen sowie die Konsequenzen für die Bevölkerung.
Zunächst widmen sich die Autoren den verschiedenen Stufen der Pandemie. So ist von der sogenannten interpandemischen Phase die Rede. Diese „dient der Vorbereitung auf die nächste Pandemie.“ Hier verweist der Bericht auf das „Zukunftsforum öffentliche Sicherheit“, dessen Stellungnahme bereits erschienen ist. So heißt es dort: „Eine einheitliche überregionale Notfallplanung, die eine grundsätzliche Strategie der Abwehr einer Pandemie umfaßt, ist nicht vorhanden.“ Dies erschwere, so der Bericht, „ein Krisenmanagement auf allen Ebenen.“ Es bleibe offen, ob bei einer deutschlandweiten Seuche die derzeitigen föderalen Strukturen des Gesundheitswesens und des Katastrophenschutzes die geeignete Organisationsform seien.
Maßnahmen waren laut Bericht gerechtfertigt
Weiter beschreibt der Text die „Alarm-Phase“, die kurzfristige Maßnahmen rechtfertigen solle, wenn die Pandemie bereits ausgebrochen ist. Auch Parameter wie die Reproduktionszahl, der sogenannte R-Wert, aber auch die Sterblichkeit und Inzidenzen werden hierbei als Diagnoseinstrument beschrieben, die dann in der eigentlichen pandemischen Phase zum Tragen kommen sollten.
In dieser Phase gewinnen die vorher definierten Schutzmaßnahmen – wie Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren – demnach an Bedeutung. In der Übergangsphase wird der Prozeß von einer Pandemie zu einer Endemie, also ein fortwährendes, ständiges, jedoch beherrschbares Auftreten der Erkrankung, vergleichbar mit der Grippe, beschrieben. Diese sogenannten Basisschutznahmen werden vom Rat als „gut“ beschrieben und sollten beibehalten werden. Zu den zentralen Schutzmaßnahmen zählen die Autoren die „Bewegungs- und Kontaktbeschränkungen mit dem Ziel, die Ausbreitung des Virus einzudämmen.“
Hierbei unterscheidet der Ethikrat „einerseits zwischen direkten Einschränkungen von Bewegungs- und Begegnungsmöglichkeiten. Beide Maßnahmen hätten ihre Berechtigung an den verschiedenen Stellen der Pandemie gehabt, so das Urteil des Gremiums.
Maßnahmen hatten massive Auswirkungen
Ein wesentlicher Punkt in der Stellungnahme des Ethikrates stellen die Schutzmaßnahmen dar. „Das Tragen einer Mund‐Nasen‐Bedeckung wurde in verschiedenen Phasen der Pandemie und für verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens – wie öffentliche Verkehrsmittel und Gebäude, Geschäfte und andere Gewerbe angeordnet.“ Weitere Schutzmaßnahmen seien häusliche Isolation bei positiv anschlagendem Test und das Impfen gegen Covid-19.
Auch mit den Schwierigkeiten, die die Maßnahmen in unterschiedlichen Institutionen hervorgerufen haben, beschäftigt sich der Bericht: „Die Pandemie sowie ihre Folgen und Nebenfolgen stellen auch unsere gesellschaftlichen Institutionen – insbesondere des Sozial‐, Gesundheits‐ und Bildungswesen – vor enorme Herausforderungen.“
Vulnerable Gruppen stehen im Fokus
Doch auch das Gesundheitssystem allgemein stieß laut den Autoren in der Corona-Krise an seine Grenzen, obwohl die deutsche Medizinversorgung „zu den leistungsfähigsten und kostenintensivsten der Welt gehört“. Jedoch seien Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und Hausärzte „nicht hinreichend vorbereitet“ gewesen. Dies betreffe laut der Autoren „Schwächen hinsichtlich des Gesundheitsschutzes auf Bevölkerungsebene, etwa eine zu geringe Berücksichtigung von Reservekapazitäten bei den Bedarfsplanungen, um auch in einer Notlage adäquat reagieren zu können.“ Das Bildungssystem litt demnach ebenfalls, besonders durch den Ausfall des Präsenzunterrichts.
Im letzten Kapitel beschreiben die Autoren ihre Empfehlungen zur Bewältigung der Pandemie. So sollten alle Maßnahmen demokratisch legitimiert werden. „In einer Pandemie ist politisch zu entscheiden, ob die Schutzmöglichkeiten auf individueller und (zivil‐)gesellschaftlicher Ebene ausreichend und effektiv sind und welche staatlichen Maßnahmen ergriffen werden sollen oder gar müssen.“ Die politischen Entscheidungen müssten „möglichst vorausschauend, bei einer Zuspitzung der Lage schnell und konsequent, wissenschaftlich informiert, ethisch reflektiert und demokratisch“ sein.
Gesamtstrategie muß stimmig sein
Außerdem müßten die Maßnahmen in eine Gesamtstrategie eingebettet werden. „Die Einschränkungen von Rechten und Freiheiten sollten zu jedem Zeitpunkt so gering wie möglich sein.“ Dabei sollte möglichst früh „damit begonnen werden, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, wie die Pandemie über ihre gesamte zeitliche Dauer auf eine für den jeweiligen Zeitpunkt angemessene Weise kontrolliert“ werden können. „Undifferenzierte Freiheitsbeschränkungen“ sollten vermieden werden. Weiterhin sollte die Eigenverantwortung gefördert und eingefordert werden, ebenso wie Solidarität für besonders vulnerablen Gruppen und dezentrale Maßnahmen, damit diese möglichst gut der regionalen Situation angepaßt werden könnten.
Insgesamt ist das Dokument neben einem ausführlichen Rückblick auf mehr als zwei Jahre pandemische Maßnahmen auch eine Empfehlung mit Blick auf zukünftigen Pandemien. Zu deutlich und zu konkret wird der Ethikrat jedoch nicht, was womöglich auch gar nicht seine Aufgabe ist. Dennoch vermißt der Leser an manchen Stellen den praktischen Bezug zum tagesaktuellen Leben.