Kurt Biedenkopf hatte eine Angewohnheit, die ihn in Sachsen zum „König“ machte. Egal, ob Betriebsbesuch, Gewerbegebietseinweihung oder Volksfest: Er lief stets an den auf ihn wartenden Honoratioren vorbei zu den einfachen Menschen, drückte ihnen die Hand, wünschte ein „Glück auf“ und hörte sich deren Probleme an. Das kam an in einem Land, das seinen Reichtum den Bergleuten in den Silbergruben des Erzgebirges, später dem Kohleabbau in der Lausitz zu verdanken hatte. Und das sich ohnehin als das eigentliche Herz Deutschlands fühlte.
Aber Biedenkopf war nicht nur ein Glücksfall für Sachsen, Sachsen war auch ein Glücksfall für Biedenkopf. Und am Anfang eigentlich nur eine Notlösung. Denn die progressiven Kräfte in der Sachsen-Union wollten verhindern, daß der mehrheitlich größere Block der stets der SED ergebenen Block-CDU die Altlast Klaus Reichenbach, CDU-Bezirksvorsitzender von Karl-Marx-Stadt, als Spitzenkandidaten für die erste Landtagswahl aufstellte. Der Favorit der Reformer hieß Heiner Geißler, aber der wollte dann lieber Bundestagsabgeordneter und Drachenflieger bleiben, wie später Matthias Rößler als einer der damaligen Königsmacher ätzte.
Geißler nannte dafür einen Ersatzkandidaten und der vom Neuen Forum zur CDU konvertierte Bürgerrechtler Arnold Vaatz präsentierte diesen aus der Not heraus, einen Professor aus Leipzig: Kurt Biedenkopf. An die Karl-Marx-Universität war der Politikwissenschaftler Anfang 1990 gekommen – die DDR existierte noch –, um Volkswirtschaft zu lehren.
Zwist mit Kohl
Biedenkopf, 1930 in Ludwigshafen am Rhein geboren, hatte zu diesem Zeitpunkt eine Karriere als Rektor der Ruhr-Universität Bochum, als Geschäftsführungsmitglied des Henkel-Konzerns in Düsseldorf, als Bundestagsabgeordneter und CDU-Generalsekretär hinter sich. Von diesem Posten trat er 1977 nach Meinungsverschiedenheiten mit Helmut Kohl zurück, als dessen enger Vertrauter er bis dahin galt. Biedenkopf bleibt danach ein Verlierer: Er unterliegt 1980 bei den Landtagswahlen in NRW dem SPD-Mann Johannes Rau und vier Jahre später zieht nicht er als EU-Präsident in Brüssel ein, sondern der Franzose Jacques Delors. Überdies verliert er den NRW-Landesverband an Norbert Blüm.
So war die Anfrage aus Sachsen für den seit 1984 im politische Aus mit der Welt hadernden Vollblutpolitiker eine zweite Chance. Biedenkopf nahm nicht nur den Antrag an, sondern zudem den Fehdehandschuh mit Kohl wieder auf. Jetzt konnte er es dem alten Widersacher beweisen. Mochte Kohl als Bundeskanzler die Deutschen in die Wiedervereinigung führen, in der Staatskanzlei in Dresden saß mit Blick auf die in Richtung Hamburg fließende Elbe jetzt jemand, der Kohls Politik als Ministerpräsident kritisieren und der am Beispiel des herunter gewirtschafteten einst mächtigen Industrielandes zeigen würde, wie tatsächlich blühende Landschaften geschaffen werden können.
Ausgestattet mit einer absoluten Mehrheit von 53,8 Prozent baute Biedenkopf um sich ein Kabinett aus ehemaligen Bürgerrechtlern – deren Flatterhaftigkeit und aus seiner Sicht queren Ansichten er nie verstand und denen er mißtraute – und erfahrenen Verwaltungsexperten aus dem Westen auf. Gleichzeitig setzte er auch eine doppelte Verwaltungsstruktur aus drei Regierungspräsidien, in denen sich ein Großteil der alten DDR-Verwaltung wiederfand, und Landkreisen mit demokratisch gewählten Abgeordneten und teilweise mächtigen Landräten.
Biedenkopf vergaß mehr und mehr seinen Wahlspruch
Letztlich gelang es Biedenkopf, der die Zustimmung der Sachsenbei den Wahlen 1994 und 1999 für seine Politik noch steigern konnte, in den zwölf Jahren seiner Herrschaft als Ministerpräsident Sachsen zum führenden Freistaat unter den neuen Ländern der Bundesrepublik zu machen.
Allerdings vergas Biedenkopf im Verlauf der Jahre seinen eigenen Wahlspruch „Streit ist der Vater des Fortschritts“. Er entwickelte immer mehr monarchistische Elemente, stellte jene kalt, die ihm wie der trotz radikaler Sparpolitik beim Volk beliebte Finanzminister Georg Milbradt widersprachen. Im Land lächelten die Menschen zunehmend über seine Schrullen und vor allem über die seiner Frau.
Aber diese summierten sich. Letztlich war es ein peinlicher Streit an der Ikea-Kasse in Dresden, bei dem Ingrid Biedenkopf mit Blick auf den Kassenbon einen „Ministerpräsidenten-Bonus“ von 15 Prozent auf eine Summe von 880 Mark verlangte, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Opposition beharrte auf einem Untersuchungsbericht, der einige andere unschöne Geschichten ans Tageslicht brachte. Es ging um die Amtswohnung, Dienstwagen, Hubschrauberflüge und Geschäfte mit alten Freunden.
Wenig gute Worte für die Nachfolger
Am 16. Januar 2002 erklärte er seinen Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten zum 18. April und widmete sich fortan der wissenschaftlichen Arbeit als Vorstandsmitglied des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft und blieb ein beliebter Interviewpartner, der für seine Amtsnachfolger Georg Milbradt und Stanislaw Tillich kaum ein gutes Wort übrig hatte.
Für einen politischen Skandal sorgte Biedenkopf noch einmal 2015, als seine Tagebücher erschienen. Allerdings ging es nicht um ihren Inhalt, sondern um einen finanziellen Zuschuß von rund 308.000 Euro die der Freistaat aus Steuermitteln an die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung gezahlt hatte. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) blieb Biedenkopf trotzdem ein „brillanter Vordenker“ und „wichtiger Mahner“.
Biedenkopf starb am 12. August im Alter von 91. Jahren in jener Stadt, in der auch einst die Wettiner residierten und in die er 2018 vom Chiemsee gezogen war, in Dresden. Die Sachsen werden ihrem „König Kurt“ ehrlichen Herzens nachtrauern.