Wenn ein früherer Verfassungsschutzchef darüber spricht, wie es um die Sicherheitslage in Deutschland bestellt ist, sollte man ihm unbedingt zuhören. Gerade wenn es in dem Land eine Debatte über Islamisten gibt, die aus den ehemaligen Gebieten des Islamischen Staates zurückkehren. Gerade wenn Linksextremisten mit einer Serie von Anschlägen eine ganze Stadt einzuschüchtern versuchen. Gerade wenn ein Rechtsextremist scheinbar aus dem Nichts einen Anschlag auf eine Synagoge verübt und zwei Menschen tötet.
Dieses Interesse verspürten wohl auch die weit mehr als 120 Zuhörer, die den Vortragssaal der Bibliothek des Konservatismus in Berlin am Mittwoch abend bis auf den letzten Platz füllten. Am Rednerpult stand der frühere Präsident des deutschen Inlandsgeheimdienstes, Hans-Georg Maaßen. Organisiert hatte die Veranstaltung die Bibliothek zusammen mit der inoffiziellen Parteiorganisation Werte-Union.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Fazit, das der promovierte Jurist zur Sicherheitslage im Deutschland des Jahres 2019 zog, ist durchwachsen. Die Gründe dafür legte Maaßen kompromißlos dar, sodaß es im Publikum nicht nur wohlwollendes Gelächter, sondern ab und an auch Kopfschütteln gab. Etwa als der in den einstweiligen Ruhestand versetzte Beamte die Identitäre Bewegung zu den rechtsextremen Gruppierungen zählte.
Der Extremist will nicht nur Anschläge verüben, er will infiltrieren
Doch dies sollte keine ausschließliche Werbeveranstaltung für die Werte-Union werden, auch wenn es die kurze Einführungsrede des Berliner Werte-Union-Vorsitzenden Bernd Pfeiffer zunächst vermuten ließ. Hans-Georg Maaßen treibt das Thema Sicherheit auch nach seiner sechsjährigen Laufbahn als Verfassungsschutzchef immer noch um. Er weiß jeden der jüngsten Terroranschläge aus dem Kopf heraus aufzusagen und Details zu nennen. Der Mann will auf aus seiner Sicht besorgniserregende Entwicklungen aufmerksam machen.
Doch was derzeit die größte Gefahr für den deutschen Staat sei, darauf wollte sich Maaßen nicht festlegen. Er nannte das eine „Kinderfrage“, denn vergleichbar seien die unterschiedlichen Bedrohungen nicht. Derzeit gebe es rund 120.000 Extremisten in Deutschland, verdeutlichte Maaßen. Ein Viertel davon seien Islamisten, als zweitgrößte Gruppe folgten Links-, dann Rechtsextremisten. Daneben gebe es noch extremistische Tierschützer oder Sektenangehörige.
Ein Extremist, stellte Maaßen klar, sei nicht nur der, der Anschläge verüben will. „Der Extremist möchte durch die Institutionen gehen und gestalten.“ Extremisten seien meist Legalisten, also Personen, die sich an die geltenden Gesetze halten und in einem „schleichenden Prozeß“ wirken wollten. Ihr Ziel: „Tragende Pfeiler der Gesellschaft zu infiltrieren und zu unterwandern.“ Dazu zählte Maaßen etwa Medien, Justiz, Kirchen, Schulen oder Nichtregierungsorganisationen.
Nicht nur Linksextremisten seien dabei erfolgreich. Auch islamische Extremisten versuchten, anerkannt und auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Und damit kämen sie auch durch, weil in Deutschland die Mentalität vorherrsche, wonach man mit jedem gleichberechtigt sprechen müsse. „Das ist eines der grundlegendsten Problem unserer Gesellschaft“, urteilte der Sicherheitsexperte.
Alle Islamisten mit Terrorpotential überwachen: unmöglich
Wie akut die Lage mit Blick auf Islamisten ist, zeigte Maaßen anhand der Zahlen: Von den rund 30.000 Islamisten hätten 2.200 Terrorpotential, 700 seien sogenannte Gefährder. Es sei unmöglich, diese 2.200 Personen, denen Anschläge zugetraut werden, zu überwachen. Dies machte er anhand eines Beispiels deutlich: Um drei Gefährder einen Monat lang rund um die Uhr zu bewachen, benötigte man 150 Beamte. Wenn der Verfassungsschutz all diese Personen überwachen wollte, „wäre er der größte Arbeitgeber Deutschlands – und das will keiner“.
Islamisten haben laut Maaßens Darstellung regen Zulauf. Es gebe „Push- und Pullfaktoren“. Heißt: Seit 2012 kamen mehr als zwei Millionen überwiegend männliche, moslemische Einwanderer nach Deutschland. Und die treffen auf eine moderne Propagandamaschinerie. Häufig ähnelten sich islamische Extremisten in ihrer Biographie. Der Verfassungsschutz spreche dabei von den „vier Ms“: männlich, Moslem, Migrationshintergrund, Mißerfolge.
Auch die Zahl der Linksextremisten nimmt zu, warnte Maaßen. Vor allem sei bei ihnen eine „Zunahme an Militanz“ zu beobachten, die aber öffentlich nicht unbedingt sichtbar sei. „Noch nie dagewesen“ sei zudem die eingebundene Rolle der Medien. Am ersten Tag der G20-Krawalle in Hamburg habe die „Tagesschau“ nicht berichtet.
Als Linksextremisten am Tag der deutschen Einheit 2019 Anschläge auf mehrere Baukräne verübten und der Bürgermeister von einem „Terrorakt“ sprach, hätten die öffentlich-rechtlichen Medien geschlafen. Außerdem gebe es neben den 27.500 bekannten Linksextremisten eine hohe Dunkelziffer.
Gänzlich anders sei der Rechtsextremismus zu bewerten. Dessen Protagonisten hätten es weder geschafft, anerkannt zu werden, noch die Institutionen zu infiltrieren. Auch die Medien gingen das Phänomen anders an. Zwar sei die Gruppe der 24.500 Rechtsextremisten sehr heterogen, man müsse aber feststellen, daß jeder zweite von ihnen gewaltbereit sei. Es gebe eine „Wechselwirkung“ zwischen der Massenzuwanderung und dem seit 2014 erstarkenden Rechtsextremismus. „Wir wären heute nicht bei über 24.000 Rechtsextremisten, wenn wir eine andere Asylpolitik gehabt hätten.“
„Der Begriff ‘Flüchtlinge’ ist falsch und wird bewußt mißverständlich verwendet“
Schließlich wechselte Maaßen dann doch seine Rolle: vom früheren Verfassungsschutzchef zum Politiker. Neben dem Extremismus gebe es einen weiteren wichtigen Punkt, der die innere Sicherheit betreffe: die Radikalisierung der Gesellschaft. Das machte der Anwalt an der Asylkrise fest. „Die Migrationspolitik befeuert die Polarisierung und sorgt für Extremismus.“
Er kritisierte die Asylpolitik, bemängelte die Abschiebepraxis und verurteilte die ungenaue Sprache in Politik und Medien. „Der Begriff ‘Flüchtlinge’ ist falsch. Es sind Asylsuchende.“ Und seiner Einschätzung nach würde dies in der Öffentlichkeit „bewußt mißverständlich verwendet“.
Es könne nicht sein, „daß Migranten um die halbe Welt reisen, um in Deutschland Asyl zu suchen“. Vielmehr müßten sie in Nachbarländern aufgenommen werden. Maaßen hangelte sich von einem Feld der inneren Sicherheit zum nächsten: von Parallelgesellschaften – „man kann in Deutschland leben, ohne ein Wort deutsch zu sprechen“ – bis zur Ausländerkriminalität – „43 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen bei Tötungsdelikten sind Ausländer“. Die Asylpolitik, faßte Maaßen zusammen, „polarisiert und verunsichert die Gesellschaft“.
Was also ist zu tun? Was rät ein Spitzenbeamter im Ruhestand Bürgern und Politikern? „Ohne Sicherheit keine Freiheit“, zitierte er Wilhelm von Humboldt. „Sicherheit ist eine zentrale Staatsaufgabe, wenn nicht die zentralste Aufgabe.“ Doch Sicherheit sei kein Selbstzweck, sie habe eine „dienende Funktion, eine Hilfsfunktion“. Obwohl er sich sichtlich für einen stärkeren Staat aussprach, verurteilte er die „Doppelgesichtigkeit“, die heute vorherrsche: Bei den sogenannten Klimastreiks von „Fridays for Future“ würden Gesetze wie die Schulpflicht nicht durchgesetzt, ebensowenig bei illegal Eingereisten. Aber wehe, es zahle jemand den Bußgeldbescheid wegen Falschparkens nicht! Bei den einen würden Regelungen hart vollstreckt, bei den anderen nicht angewendet.
Staat habe Pflicht vergessen und fokussiere sich nur noch auf die Kür
Heute habe er den Eindruck, daß der Staat die Pflicht vergesse und sich auf die Kür fokussiere. „Sicherheit ist Pflicht, Gender und Klima sind Kür.“ Die Politik sei Teil des Problems, aber nicht das alleinige. Man müsse bereits bei der Erziehung der Kinder anfangen. Maaßen verwies dabei auf das preußische Schulsystem, das später auch von den Japanern übernommen worden sei. Und dort brauche man heute keine dicken Schlösser montieren, weil die Kriminalität gering sei. Maaßens Fazit: In deutschen Schulen werde „zu wenig erzogen, und nur Wissen vermittelt“.
Es brauche eine „Wende in Deutschland“. Auch in seiner Partei. „Ich bin damals in die CDU eingetreten, die eine andere war als heute. Heute ist sie zu einer zweiten grünen Partei geworden.“ Applaus im Publikum. Daß es mittlerweile eine zweite Partei gibt, die ihrem Selbstverständnis nach die aufgegebenen, konservativen Positionen der CDU eingenommen hat, erwähnt Maaßen nicht. Das Wort „AfD“ fällt in seinem Vortrag kein einziges Mal.
Mit der Bestandsaufnahme zur inneren Sicherheit in Deutschland, das ließen die Publikumsfragen und die Gespräche hinterher erkennen, gingen die meisten Zuhörer konform. Mit den politischen Forderungen, die Maaßen und sein Kollege der Werte-Union daraus ableiteten, jedoch eher nicht.