Ein drückend heißer Freitagnachmittag in Berlin. Das angekündigte Gewitter ist noch nicht angekommen, lediglich ein paar dunkle Wolken geben eine Vorahnung. Touristen tummeln sich auf der Wiese vor dem repräsentativen Westportal des Reichstags. Die Inschrift „Dem Deutschen Volke“ reflektiert golden die strahlende Junisonne. Plötzlich ertönt ein Glockenschlag. Bing! Wie auf Kommando streifen einige der herumstehenden Leute ein blaues T-Shirt über. Auf der Rückseite steht die Aufschrift „#EinsatzVeteranen“ und „#vergissmeinnicht“.
Eine Art Flashmob, der sich jedoch langsam in eine Mahnwache verwandelt: Umrahmt von zwei Fahnenträgern stehen nun schwarze und sandfarbene Militärstiefel vor den Stufen des Parlaments.
111 Glockenschläge
Immer wieder nimmt ein Mitglied des Bundes Deutscher Einsatz-Veteranen, der diese Aktion initiiert hat, ein stilisiertes Vergißmeinnicht und steckt es in einen der Stiefel.
Auf der Blüte aus Pappe steht jeweils der Name eines verstorbenen Kameraden, das Todesdatum und ein Hinweis auf das Einatzkontingent, in dem er gedient hat. Und jede Minute ein weiterer Glockenschlag. 111 mal insgesamt. 108 für die in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr gefallenen Soldaten.
Und je ein Schlag symbolisch für die, die in irgendeiner Weise verwundet aus dem Einsatz zurückkehrten, einer für die vielen „unsichtbaren Veteranen“ sowie für die, die sich in einer so ausweglosen Situation befanden, daß sie Suizid begangen haben.
Hauptgegner: die Verständnislosigkeit
Gedämpfte Stimmung breitet sich aus. Sie scheint auch manche zu erfassen, die eigentlich nur wegen der Sehenswürdigkeiten gekommen sind. Eine leise Demonstration. Ungewöhnlich in Berlins Mitte, wo es sonst eher laut und schrill zugeht. Aber vielleicht ist gerade diese Ruhe viel wirkungsvoller. Nur jede Minute ein Glockenschlag. Bing! Für ein Schicksal …
Eine Veteranin erzählt im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT von ihren zahlreichen Klinikaufenthalten, von fehlenden Militärpsychologen und davon, daß schon mal Urologen mit Zusatzfortbildung traumatisierte Soldaten behandeln sollen.
Und ein dauernder Hauptgegner: die Verständnislosigkeit der anderen gegenüber dem Leiden der seelisch Verwundeten. „Es gibt Kameraden, die geraten in eine schwere soziale Schieflage, die rutschen richtig ab“, weiß sie zu berichten. Etwa wenn das Trauma in einer Suchterkrankung mündet, wenn dadurch dann den Betroffenen der Arbeitsplatz und am Ende auch die Wohnung gekündigt wird.
Ein sichtbares Zeichen der Wertschätzung
Doch außer einer besseren medizinischen, sozialen oder materiellen Nachsorge des Dienstherrn für seine Untergebenen wünschen sich die Veteranen der Auslandseinsätze vor allem etwas mehr Anerkennung für das, was sie – zum Teil unter Lebensgefahr – geleistet haben.
Deswegen auch dieses Gedenken vor dem Reichstag. „Ich glaube, vielen hier ist gar nicht bewußt, daß wir eine Parlamentsarmee haben“, bedauert die Soldatin. „Anerkennung schafft Identität, und Identität verleiht Sicherheit“, bemerkt Björn Schreiber, ehemaliger Zeitsoldat und Marineoffizier, der diese Aktion des Veteranenverbandes maßgeblich organisiert hat, gegenüber der JF.
Es gehe dabei gar nicht um pompöse Veranstaltungen, sondern nur ein sichtbares Zeichen der Wertschätzung. „Ein Veteranentag wäre das Nonplusultra der sichtbaren Anerkennung.“ Schreiber, Mitherausgeber eines Buches zum Thema Veteranen, verhehlt gar nicht, daß es auch Fortschritte gibt. So ist die Mehrzahl der Wehrdienstbeschädigungsverfahren im ersten Anlauf schon für die Betroffenen erfolgreich. Dringend notwendig sei allerdings eine Datenbank.
Auch Passanten werden aufmerksam
„Die Bundeswehr kennt ja gar nicht die genaue Zahl der Veteranen. Denn in der Gesamtzahl der Entsendeten sind ja auch die, die mehrmals im Einsatz waren.“ Und, so fragt der Afghanistan-Veteran Schreiber, warum liege das Totenbuch der Bundeswehr nicht im Bundestag? Dort, wo die Entsendung deutscher Soldaten in den bewaffneten Einsatz beschlossen wird. Politiker, die solche Fragen vielleicht beantworten könnten, sind an diesem Freitagnachmittag nicht zu sehen; der Bundestag hat keine Sitzungswoche.
Einzelne Berlin-Besucher schauen neugierig und fragen die Frauen und Männer mit den blauen T-Shirts nach dem Grund ihrer Aktion. Hier und da bilden sich kleine Gesprächsgruppen, manche Unterhaltung wird auf englisch geführt. „Ich habe fast das Gefühl, daß sich die ausländischen Touristen sogar mehr für uns interessieren“, resümiert eine Teilnehmerin erstaunt. Die Umstehenden nicken zustimmend.
Bing!