Mit Fundamentalkritik führender Unionspolitiker an der doppelten Staatsbürgerschaft könnte man seit Roland Kochs Wahlkampagne gegen den Doppelpaß von 1999 Bände füllen. Wie es aussieht, wären diese Bände freilich demnächst endgültig Makulatur: Im Schweinsgalopp schwenken CDU und CSU derzeit auch in dieser Frage auf SPD-Kurs ein, um die Große Koalition und Angela Merkels nächste Kanzlerschaft nur ja nicht an Grundsätzen und Überzeugungen scheitern zu lassen. Wen kümmert da schon, wenn die Desintegration von Staat und Gesellschaft wieder einen kräftigen Schritt nach vorne getrieben wird.
Was aus staatspolitischer Sicht gegen die doppelte Staatsbürgerschaft spricht, ist sattsam bekannt: Bürger zweier Staaten zu sein impliziert doppelte Loyalität. Das mag noch unproblematisch sein, solange beide Loyalitäten sich auf denselben Kultur- und Wertekreis beziehen, wie im Falle jener Unionsbürger, die nach geltendem europäischem Recht neben der deutschen auch noch ihre ursprüngliche EU-Staatsbürgerschaft halten. In dem Moment, wo eine der Loyalitäten einem Land außerhalb des europäischen Kulturkreises gilt, und wenn es sich zudem nicht um Einzelfälle handelt, sondern eine größere geschlossene Gruppe von Einwanderern betrifft, sind Konflikte programmiert, die den einzelnen und das Gemeinwesen tief spalten können.
Ein Déjà-vu mit der letzten Großen Koalition
Die aktuelle Debatte um die generelle Zulassung der doppelten Staatsangehörigkeit ist ein Déjà-vu der fünf Jahre zurückliegenden Kontroverse in der letzten Großen Koalition. Die wesentlichen Argumente sind 2008 bereits ausgetauscht worden: Der Doppelpaß sei ein „schlimmer integrationspolitischer Holzweg“, es dürfe „keine deutsche Staatsangehörigkeit zum Nulltarif“ geben (Hartmut Koschyk, damals parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe); man sehe „keinen Bedarf“, und „die große Mehrheit der Deutschen“ sei ohnehin dagegen (Wolfgang Schäuble, zu jener Zeit Bundesinnenminister).
Davon ist heute nichts mehr zu hören, erst recht nicht von der schon seinerzeit mehr beschwörenden als feststellenden Aussage Wolfgang Bosbachs, die Union wolle „zurück zum alten Staatsangehörigkeitsrecht von vor 1999, weil es eben keine doppelten Loyalitäten bei der Staatsangehörigkeit geben kann“.
Die SPD agiert im Sinne türkischer Verbände
Wie 2008, so hat auch diesmal wieder die SPD das Thema auf die Agenda gesetzt. Vor fünf Jahren war Anlaß der Beginn der Optionsphase für die ersten der nach der rot-grünen „Reform“ des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 eingebürgerten jungen Menschen, die zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr entscheiden müssen, ob sie den deutschen Paß oder den des Ursprungslandes behalten wollen; jetzt ist es das Auslaufen dieser Frist für die ersten Betroffenen.
Noch sind es wenige tausend, bald werden es Zigtausende sein, meist junge Türken, die seit 2000 zum elterlichen den deutschen Paß erhielten, den sie nach geltendem Recht wieder verlieren, wenn sie sich nicht eindeutig dafür entscheiden. Wie 2008 machen die tonangebenden SPD-Politiker auch heute kein Hehl daraus, daß sie im Sinne der türkischen Verbände agieren. Ihre Strategie ist, sich durch konsequente inhaltliche und personelle Anbiederung an diese Lobby neue und zahlenstarke Wählerkohorten zu erschließen.
Der Doppelpaß nutzt nur Rosinenpickern und Kriminellen
Dafür nehmen die Sozialdemokraten und ihre grünlinken Gesinnungsgenossen achselzuckend in Kauf, daß sie dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan, der sich als wahres Oberhaupt aller in Deutschland lebenden Türken versteht, auch der eingebürgerten, eine rasch aufwachsende fünfte Kolonne zur Einmischung in die deutsche Politik frei Haus liefern. Und sie lassen sich auch nicht von Spielverderbern aus den eigenen Reihen beeindrucken, die da mit Erdung in der Realität – wie der Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) – kundtun, der Doppelpaß nütze nur Rosinenpickern und Kriminellen, die mit zwei Pässen zur Auswahl leichter untertauchen könnten.
Von eigenen Strategien und Zielen, wie schräg und verantwortungslos die der SPD-Führung auch sein mögen, sind die Unionsparteien Welten entfernt. Selbst wenn der eine oder andere, dem Vorbild von Noch-Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) folgend, aus Sorge um noch nicht vergraulte konservative Wähler grummelnd Protest anmeldet: Im Zweifelsfall gilt die Taktik der Kanzlerin, immer schön abwartend den Finger in den Wind zu strecken und am Ende in die Richtung zu marschieren, in der man die Zeitgeist-Brise am stärksten im Rücken spürt. CSU-Chef Horst Seehofer, der Parteifreund Friedrich in dieser Frage eiskalt im Regen stehen läßt, ist bekanntlich vom selben Schlag.
Es geht um die Fundamente von Staat und Gesellschaft
Gleichgültig, welcher faule Kompromiß – auch die von Integrations-Schönrednerin Maria Böhmer (CDU) ins Spiel gebrachte „ruhende Staatsbürgerschaft“ wäre so einer – nun diesmal herauskommen mag: er trüge den Ansatz zu seiner Infragestellung ebenso in sich wie jener erste faule Kompromiß aus dem Jahr 2000, der von automatisch eingebürgerten Einwandererkindern die Entscheidung, zu welchem Land sie gehören wollen, erst im Erwachsenenalter verlangt. Rot-Grün hat dieses Zugeständnis in der sicheren Erwartung gemacht, diese Optionsklausel im Laufe der Jahre unter Hinweis auf geschaffene Fakten und allerlei „menschliche Härten“ sturmreif schießen zu können.
Das mindeste, was ihre Wähler von der Union als deutlich stärkster Kraft erwarten können sollten, wäre das Festhalten an diesem Minimalkonsens und eine programmatische Perspektive zur Wiederherstellung klarer Verhältnisse ohne Doppelpaß und andere Zweideutigkeiten. Schließlich geht es um die Fundamente von Staat und Gesellschaft, die eine inhaltlich entkernte Regierungspartei gerade dem unbedingten Machterhalt zu opfern sich anschickt.
JF 46/13