Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sind „kleine Bundestagswahlen“ – das ist eine deutsche Binsenweisheit. Wenn ein Viertel der Bundesbürger eine neue Landesregierung wählt, ist das Ergebnis unvermeidlich ein Signal für die ganze Republik. Vor zweieinhalb Jahren hat die schwarz-gelbe Alptraumkoalition aus Angstlähmung vor dem letzten Wahltermin in Düsseldorf ihren Start vermasselt. Jetzt könnte die vorgezogene Neuwahl in NRW das System Merkel schneller als gedacht zum Auslaufmodell werden lassen.
Bis vor gut einer Woche schien das durchschaubare Kalkül der Kanzlerin aufzugehen: Die FDP ist erledigt und abgehakt, also wird spätestens 2013 mit den Grünen oder den Sozialdemokraten weiterregiert. Der Kanzlerbonus schien stark genug, um ihr in jeder beliebigen Konstellation den Vorrang zu sichern; die Sozis, bei denen sich keiner aus der Deckung traute, gaben ganz offen zu, sie nicht direkt angreifen zu wollen. Daß sie bei der Bundespräsidentenkür weder schwarz-rote noch schwarz-grüne Signale aussenden konnte, weil die Liberalen ihr den rot-grünen Kandidaten aufgezwungen haben, war für Angela Merkel ärgerlich, aber noch kein Menetekel.
Eine rot-grüne Mehrheit wird immer wahrscheinlicher
Nach dem unvorhergesehenen Wahlgang am Muttertag wird „Mutti“ umdenken müssen. Eine rot-grüne Mehrheit ist die wahrscheinlichste Variante für den Wahlausgang – mit einer trotz schwacher Bilanz gestärkten SPD-Ministerpräsidentin, die von der Verlegenheitslösung zur Hoffnungsträgerin eines rot-grünen Machtwechsels im Bund aufgestiegen ist und allen Dementis zum Trotz auch künftig als alternative Kanzlerkandidatin gehandelt werden wird. Und mit vor Machtbewußtsein strotzenden Grünen, die trotz der inzwischen deutlichen Abbremsung ihres Fukushima-Höhenflugs vom vergangenen Jahr ihre Aktien für eine Rückkehr an die Macht auch im Bund wieder steigen sehen.
Mit solchem Selbstbewußtsein ausgestattet fällt die Entscheidung leicht, den Düsseldorfer Haushaltspoker zur Krise eskalieren zu lassen und die Landtagsaufl ösung zum strategisch günstigen Zeitpunkt zu provozieren. Die Rede der Grünen-Landeschefi n Sylvia Löhrmann vom „Casus belli“, den die FDP geliefert habe, ist verräterisch: Die Grünen haben einen Krieg gegen die FDP vom Zaun gebrochen, weil sie ihn jetzt endlich gewinnen können, analysiert Volker Zastrow in der FAS.
Dabei geht es weniger um eine Konkurrenz um dieselbe Wählerklientel, sondern um die Besetzung der „Schlüsselposition im Parteiensystem“, ohne die keine Regierung gebildet werden kann. Vieles spricht für Zastrows Vermutung, der grüne Chefstratege Jürgen Trittin, der Architekt des rot-grünen Gauck-Coups, habe auch in NRW selbst die Strippen mitgezogen. Im Irrtum, als Mehrheitsbeschaffer noch immer unentbehrlich zu sein, ist die FDP in NRW in eine Falle gelaufen, die fast sicher mit ihrem versehentlichen Selbstmord aus Angst vor dem Tod enden wird.
Ein tölpelhaftes Ende für die Liberalen
Nicht aus Prinzipientreue, sondern aus Tölpelhaftigkeit gehen die Liberalen ihrem Ende entgegen. Daran wird auch die plötzliche Wiederkehr des Christian Lindner nichts ändern. Daß der Spitzenkandidat der letzten Hoff nung dem zweiten Veteranen der Westerwelle-„Boygroup“, Gesundheitsminister Daniel Bahr, den Landesvorsitz abgenommen und Parteichef Philipp Rösler, dem er noch vor drei Monaten die Brocken des Generalsekretärs hingeworfen hat, im Vorbeigehen endgültig entmachtet hat, ist ein Pyrrhussieg.
Nicht nur die Tage des Parteivorsitzenden Rösler sind gezählt, der bei den Entscheidungen in Düsseldorf nur noch vor der Türe sitzen durfte – die ganze FDP als funktionslos gewordenes Anhängsel eines linksgewirkten Parteiensystems ist am Ende. Der wortgewandte Opportunist Lindner ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems seiner Partei, die zu feige ist, eine freiheitliche Gegenposition zum eurorettenden, schuldenverliebten, umverteilungs- und ökosozialistischen schwarz-rot-grünen Mainstream zu beziehen.
Nach dem 13. Mai wird Kanzlerin Merkel mit zwei schwer beschädigten FDP-Ministern und einem vaporisierten, von Personalquerelen paralysierten Koalitionspartner dastehen. Ob sich das noch anderthalb Jahre bis zum regulären Wahltermin durchhalten läßt, ist mehr als fraglich. Ein Koalitionswechsel im Bund ohne Neuwahlen ist allerdings ebensowenig wie in Nordrhein-Westfalen vorstellbar: Zu viel haben Grüne und SPD zu gewinnen, zu verlockend die Aussicht, auch ohne Merkel die Macht zu erobern.
Norbert Röttgen ist das personifizierte CDU-Dilemma
Norbert Röttgen, der Spitzenkandidat mit angezogener Handbremse, ist das personifizierte Dilemma der programmatisch rundgeschliffenen Merkel-Union: Im Bund steht er für grün-rote Energiepolitik, in NRW für grün-rote Schulpolitik unter maßgeblicher Kollaboration der CDU. Daß er den Ministersessel als Rückversicherung behaltenwill und ersichtlich keine Lust auf den Posten des Oppositionsführers in Düsseldorf hat, ist nachvollziehbar.
Einen nichtlinken Gegenentwurf zu Rot-Grün hat er nicht, schwarzgrüne Anbiederung ist sein Machtrezept, und dafür liegen die Karten an Rhein und Ruhr schlecht. Mag sein, Norbert Röttgen rechnet sich bessere Chancen aus, die Kanzlerin nach einem Scheitern der Koalition mit der FDP demnächst als schwarz-grüner Hoffnungsträger zu beerben, wenn er in Berlin bleibt. Wahrscheinlicher ist, daß das eine Milchmädchenrechnung bleibt.
Nicht nur FDP und Linke – es interessiert schon niemanden mehr, ob die Kommunistentruppe ein linkes Bündnis anstrebt oder Fundamentalopposition – schaffen sich selbst ab, auch die CDU hat sich in ihrer machtfixierten Beliebigkeit zunehmend überflüssig gemacht in der linksgrünen Republik, der sie selbst den Weg bereitet hat. Solange die Union weiter ihre konservativen Wurzeln eigenhändig ausreißt, bestimmen die Grünen – egal, ob auf der Regierungs- oder der Oppositionsbank – die Richtlinien der Politik.
JF 13/12