BERLIN. Daß der Prophet im eigenen Land nicht viel gilt, ist bekannt. Ein solcher Prophet wird heute 85 Jahre alt: der Berliner Historiker Ernst Nolte, Enfant terrible der deutschen Zeitgeschichtswissenschaft.
Der 1923 in Witten an der Ruhr geborene Sohn eines Volksschulrektors widmete sich – da er aus gesundheitlichen Gründen als wehruntauglich eingestuft wurde – schon ab 1941 dem Studium der Philosophie, Germanistik und der altgriechischen Philologie.
Seine Promotionsschrift über Karl Marx und den deutschen Idealismus (1952) und seine Habilitation, in der er sich der Aufarbeitung des Faschismus widmete, ließen auf den ersten Blick vermuten, daß Nolte wohl zur Zunft der „linksorientierten“ Hochschullehrer gehöre. Zumal er mit seiner einschneidenden Arbeit „Der Faschismus in seiner Epoche“ (1963) als erster bürgerlicher Historiker das konservative Tabu brach, vom Nationalsozialismus als „Faschismus“ zu sprechen.
Epochemachendes Werk
Auf diese Sprachregelung legte die bürgerliche Seite deshalb soviel Wert, weil das im Begriff Nationalsozialismus enthaltene Wort „Sozialismus“ auf die linke Herkunft dieser Bewegung hinwies und überdies die damals noch in Ehren gehaltene Antitotalitarismustheorie betonte – also die Äquidistanz der bürgerlichen Demokratie zu den Totalitarismen, gleich ob braun oder rot. Dagegen wurde von marxistischer Seite die Verwendung der Vokabel „Faschismus“ vorangetrieben, um genau dies zu unterminieren und zudem den linksextremistischen „Antifaschismus“ des eigenen Lagers in bürgerlichen Kreisen zu legitimieren.
Gleichwohl war Noltes Buch epochemachend: „Der Faschismus in seiner Epoche“ bot erstmals eine aus dem engen deutschen Umfeld herausgelöste Einordnung des Nationalsozialismus als Teil einer europäischen politischen und geistigen Bewegung, der seine Entsprechungen in Italien, Frankreich und anderen Ländern hatte.
Der bei Nolte zum „Faschismus“ gewordene Nationalsozialismus mutierte damit allerdings auch unbeabsichtigt von einer illegitimen politischen zu einer legitimen geistigen Erscheinung – insofern, als kein Geist oder Ungeist umsonst entsteht, sondern stets seine historische Ursache hat.
Aufsatz löst Historikerstreit aus
Dieser Aspekt in Noltes Deutung führte Jahre später zum Eklat. 1986 entbrannte um seinen Aufsatz „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni, der sogenannte „Historikerstreit“. Sachlich drehte es sich vor allem um Noltes These, daß der Faschismus im allgemeinen, Hitlers Nationalsozialismus und dessen eliminatorischer Antisemitismus im besonderen, nicht historisch angemessen zu verstehen seien, wenn deren Impetus, nämlich der auf der europäischen Bühne erschienene Kommunismus und seine 1917 in Rußland manifest gewordene Bedrohung für das ganze bürgerliche Europa nicht in Rechnung gestellt würden.
Kurz: Hitler habe in gewisser Weise „reagiert“. Also: ohne Kommunismus kein Nationalsozialismus, ohne Klassenmord kein Rassenmord, ohne Gulag kein Auschwitz. Das war zuviel! Was Nolte als erkenntniserweiternde These zum geistigen Verständnis der europäischen Geschichte formuliert hatte, wurde – teils aus Unvermögen, teils aus politischem Kalkül – als Angriff auf die angeblich „historisch korrekte“, in Wirklichkeit nur politisch korrekte Deutung des Nationalsozialismus interpretiert, und damit als „Relativierung“ des „unvergleichbaren“ Nationalsozialismus und der „Singularität“ seiner Verbrechen.
Über diesen Kern hinaus markierte der Historikerstreit aber den Abschluß einer durch die Achtundsechziger eingeleiteten Umpolung des deutschen Nationalverständnisses. Während sich bis zu dieser Zäsur die Deutschen noch als ein Volk betrachteten, dem der Nationalsozialismus widerfahren war, interpretierten sie sich nunmehr als Volk, das diesen verursacht und sich damit im Grunde seiner moralischen Existenzberechtigung begeben habe.
Persona non grata
Unausgesprochen machte der Historikerstreit, den Nolte mangels Unterstützung im bürgerlichen Lager verlor, die Selbstaufgabe desselben deutlich. Von nun an war die tradierte bürgerliche Interpretation der deutschen Nationalgeschichte obsolet, ja verdächtig, durchgesetzt hatte sich vielmehr das neue, zunächst vor allem von den Reimmigranten vertretene Geschichtsverständnis, das in seiner Konsequenz darauf abzielte, den bürgerlichen deutschen Nationalstaat als historischen Irrtum und moralisches Vergehen abzuwickeln.
Folglich geriet Ernst Nolte in der Zeit nach dem Historikerstreit in rasender Geschwindigkeit zur Persona non grata – trotz seiner Publizistentätigkeit in seriösen Verlagen, vereinzelt fairer Rezeptionen wie zum Beispiel unlängst in Gestalt eines über einstündigen Fernseh-Porträts im deutsch-französischen Kulturkanal Arte und vor allem trotz seiner Anerkennung im Ausland, vor allem in Italien.
Jedoch wurzelt das Unverständnis gegenüber Ernst Nolte nicht nur in politischer Animosität, sondern auch im Unvermögen der sich gern als objektive Historiker gerierenden heutigen Generation von Geschichtsideologen, dessen „Handwerk“ zu verstehen.
Kein Historiker im strengen Sinne
Denn im Grunde ist Nolte kein Geschichtswissenschaftler im strengen Sinne – und will es auch gar nicht sein –, sondern ein Geschichtsphilosoph. Er frönt einem Metier, das im deutschsprachigen Raum im 19. und frühen 20. Jahrhundert einmal eine Hochzeit erlebte und gleichzeitig für eine führende Stellung Deutschlands im geistigen Leben des Abendlandes sorgte. Doch mit dem Untergang des freien deutschen Nationalstaats 1933 und erneut 1945/49 und dessen Ersetzung durch die geistigen Bürgerkriegsregime des Nationalsozialismus und der westgebundenen Bundesrepublik (statt etwa einer nationalen Bundesrepublik, wie sie Kurt Schumacher erträumte), kam auch die Bereitschaft aus der Mode, Historiker als Denker, vielleicht sogar als Künstler zu betrachten.
Gefragt waren von nun an Historiker, die aus dem Material der Geschichte die passende Weltanschauung zu den herrschenden Verhältnissen destillierten. So ragt der Monolith Nolte wie aus längst vergangener Epoche in unsere Zeit.
Ihn mag zu seinem heutigen 85. Wiegenfest der Gedanke trösten, daß in der Weisheit von der Mißliebigkeit des Propheten im eigenen Lande ein Stück Welterkenntnis liegt, das mit diesem Schicksal versöhnen mag und zudem ein Versprechen auf ausgleichende Gerechtigkeit birgt: Die Stunde der Propheten kommt eines Tages – und mit ihr Anerkennung, vielleicht sogar Dank. Von dem Geschichtsdenker Ernst Nolte und seinen kühnen Vorstößen ins Reich der historischen Genese wird noch gesprochen werden, wenn sich an die Namen seiner heute triumphierenden Gegner längst niemand mehr erinnert.