Vorige Woche versammelte sich das christliche Europa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) in Straßburg – bereit, den entfachten Kulturkampf aufzunehmen. In zweiter Instanz wurde über das sogenannte Kruzifixverbot erneut verhandelt, das im November 2009 von dieser Institution des Europarats verhängt worden war.
Der Stein, den eine atheistische Finnin mit italienischem Paß im Jahre 2002 ins Wasser geworfen hatte, hat inzwischen riesige Kreise gezogen, weit über die Grenzen Italiens hinaus. Denn inzwischen sind auch andere europäische Staaten aufgewacht, um ihre christlichen Werte vor den Schranken des 1998 aufgewerteten ECHR zu verteidigen.
Es steht viel auf dem Spiel, denn das Urteil der 17 Richter der Großen Kammer des ECHR wird für alle Mitgliedstaaten des Europarats (neben den EU-Ländern gehören dazu auch die Türkei oder Rußland) bindend sein. Das bedeutet auch, daß jedes der Länder mit einer ähnlichen juristischen Klage vor das Gremium treten kann.
Vehementer Verteidiger des Kruzifixes
Neben den Vertretern der italienischen Regierung und dem Anwalt Nicolò Paoletti, der die abwesende Klägerin Soile Lautsi vertritt, waren auch zahlreiche Organisationen nach Straßburg gereist, um die Debatte im Justizpalast zu verfolgen.
In diesem Verfahren treten zehn andere Europaratsmitglieder als Drittparteien auf – ein wahrer Rekord in der Geschichte des Gerichts. Staaten mit überwiegend katholischer oder orthodoxer Bevölkerung wie Armenien, Bulgarien, Griechenland, Malta, Monaco, San Marino, Litauen, Rumänien, Rußland oder Zypern stehen auf der Seite der italienischen Regierung.
Als Drittparteien sind auch 33 konservative Europaabgeordnete vertreten, unter ihnen der CSU-Politiker Bernd Posselt. Sie legten eine Petition vor. Auch das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (ZdK) ist vertreten. Einer der vehementesten Verteidiger des Kruzifixes ist der in Jerusalem aufgewachsene Europarechtler Joseph Weiler, der in New York und Brügge Völker- und Europarecht lehrt.>>
„Ich möchte unbedingt verhindern, daß der Grundsatz gelten wird: Religiöse Symbole sind unzulässig“, erklärte Weiler im Radio Vatikan. „Wenn Kruzifixe nur aus kulturellen Gründen in öffentlichen Gebäuden hängen, dann ist das ein Eigentor.“ Viele dächten heute noch so wie die USA vor 200 Jahren: „Damals galt, daß nur eine leere Wand ohne Symbole die neutrale Haltung des Staates wiedergebe.
Unsere heutige westliche Gesellschaft hingegen ist zweigeteilt in religiöse und nicht-religiöse Menschen. Und da gilt der Leitgedanke, daß wir unseren Kindern die Pluralität und somit die Toleranz beibringen sollen. Und das geschieht nicht, indem wir die Kruzifixe von den Wänden reißen.“
Kreuze gehörten in Italien ebenso zur Tradition und Kultur des Landes, wie die Nationalhymne „God Save the Queen“ in Großbritannien. Im übrigen, so Weiler, gebe es in Europa Länder mit einer Staatsreligion wie zum Beispiel Großbritannien, die dennoch demokratisch und pluralistisch seien. Der ECHR dürfe kein Land zur Laizität verpflichten, so Weiler.
Wogen der Erregung
Soile Lautsi, die in dem Kurort Abano Terme in der Provinz Padua lebt, ist in der 1906 gegründeten atheistischen „Vereinigung für den Freien Gedanken Giordano Bruno“ engagiert. Dieser Verein hat sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, die Kruzifixe zu verbannen. Einer der Hauptkämpfer ist seit Jahren der Richter Luigi Tosti, der mit seinem Feldzug die Gerichte beschäftigt.
Lautsi mochte im Schuljahr 2001/2002 nicht hinnehmen, daß in den Klassenzimmern ihrer Söhne Kruzifixe an der Wand hingen. Nachdem sie mit ihrer Klage vor allen italienischen Gerichten gescheitert war, erhielt sie 2009 in Straßburg recht. Die Präsenz des christlichen Symbols in Italiens staatlichen Schulen sei nicht mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vereinbar, so die ECHR-Richter. Im Interesse einer „demokratischen Gesellschaft“ müsse der Staat auf dem Feld der Erziehung konfessionell neutral bleiben, sonst verstoße er gegen die Religionsfreiheit und gegen das Recht der Eltern.
Die Wogen der Erregung wollen bis heute nicht abflauen. Die Straßburger Entscheidung hat sogar fromme katholische und postkommunistische Politiker eng zusammenrücken lassen. Von einem Fehlurteil war die Rede und vom „Verrat an religiösen und kulturellen Werten“. Selbst der sonst so sanftmütige deutsche Kurienkardinal Walter Kasper, der Präsident des Rats für die Einheit der Christen, sprach von einem „aggressiven Säkularismus“.
Die Klägerin selber, deren Söhne inzwischen 20 und 21 Jahre alt sind und die jahrelang tönte, den Kampf „für meine Kinder“ geführt zu haben, schweigt indes. Sie fühle sich von den „katholischen Taliban“ bedroht. So blieb sie auch dieser Verhandlung in Straßburg fern. Nur ihr Ehemann, Massimo Albertin, ein Labortechniker, der aus der Kirche ausgetreten ist, verteidigt seine Frau: „Wir wollten nur das Beste für unsere Söhne.“ Das Urteil wird erst in einigen Monaten erwartet.
JF 28/10