Nach dreimonatigen mühseligen Beratungen mit militärischen und zivilen Experten erläuterte US-Präsident Barack Obama am 1. Dezember in einer Rede an der Militärakademie West Point seine neue Afghanistan-Strategie: eine Truppenaufstockung um 30.000 Soldaten und den Abzug nach 18 Monaten. Er sprach im maßvollen, besonnenen Ton eines Professors. Die Kadetten hörten zunächst ehrfürchtig zu, allmählich jedoch ließ ihre Aufmerksamkeit sichtlich nach, als ob sie die mitreißend-martialischen Phrasen vermißten, deren sich George W. Bush zu bedienen pflegte.
Derselbe Stil prägte Obamas Reaktion auf den gescheiterten Terroranschlag auf Flug 253 von Amsterdam nach Detroit am ersten Weihnachtstag. Drei Tage später bekundete der Präsident von seinem Urlaubsort auf Hawaii seine Entschlossenheit, „alles Erforderliche zu tun, um sie zu besiegen und unser Land zu verteidigen, und dabei jene Werte in Ehren zu halten, die Amerika seit jeher unter den Staaten hervorgehoben haben“. Er sprach mit der Stimme der Vernunft – in einem Augenblick, in dem viele Amerikaner sich mehr Emotionalität, wenn nicht gar Wut gewünscht hätten.
Ungeschickte Reaktion auf Terroranschlagversuch
Unter dem Druck republikanischer Kritik am Versagen der Geheimdienste und dem Versuch seitens der Regierung, die Schwere des Vorfalls herunterzuspielen, sah Obama sich vom Zorn der Bevölkerung getrieben. Nach einem Treffen mit Sicherheitsexperten erklärte er, die nötigen Informationen zur Verhinderung des Attentatsversuchs seien vorhanden gewesen, das System habe aber versäumt, die richtigen Schlüsse zu ziehen und Alarm zu schlagen: Obwohl Umar Faruk Abdulmutallabs Kontakte zu britischen Radikal-Islamisten dem britischen Geheimdienst MI5 bekannt waren und sein eigener Vater die US-Behörden mehrfach gewarnt hatte, obwohl er auf einer Beobachtungsliste von über 500.000 Namen stand, erhielt er ein Visum, konnte ein Hinflugticket in die USA mit Bargeld kaufen und einchecken, ohne Gepäck aufzugeben.
Das Hauptproblem scheint darin zu bestehen, daß die Kommunikation zwischen den 16 US-Geheimdiensten seit der Reform von 2004 zwar besser funktioniert, die einzelnen Dienste aber jeden Tag Berge von Daten auswerten müssen. Zudem sind im Kampf gegen den Terrorismus nicht nur strategische, sondern vor allem politische Erwägungen relevant. So gering im Vergleich zu alltäglichen Risikofaktoren die Wahrscheinlichkeit ist, bei einem Terroranschlag zu sterben, so empfindlich reagiert die Öffentlichkeit auf Fehler in diesem Bereich. Wenn die Amerikaner aber nicht bereit sind, mit der Bedrohung durch gelegentliche Anschläge zu leben, wie es viele andere Staaten tun, bedeutet das einen Sieg für die Terroristen: Selbst wenn ihre Attentate scheitern, verbreiten sie Angst und Unsicherheit. Dabei zeigt der Vorfall vom 25. Dezember im Grunde nicht die Stärke, sondern die Schwäche al-Qaidas: Der Täter hatte Glück und konnte das Sicherheitsnetz durchdringen – und scheiterte dennoch.
Keine noch so strengen Sicherheitsvorkehrungen können die Terrorgefahr vollkommen ausschalten. Vielmehr müssen mehr echte Helden wie Alhaji Umaru Mutallab, der Vater des Täters, sich in ihrem sozialen Umfeld gegen die Radikalisierung der jungen Männer wenden. Leider sind derartige Vorbilder in der muslimischen Welt selten. Selbst viele politische Verantwortliche lassen das nötige moralische Rückgrat vermissen, unmißverständlich den Extremismus zu verurteilen, der in islamischen Gesellschaften vielerorts um sich greift.
Der junge Nigerianer wurde im Jemen zum Terroristen ausgebildet, einem vor dem Zusammenbruch stehenden Staat, der im Süden von Sezession und im Norden von Rebellion bedroht ist und über ein riesiges Waffenarsenal verfügt. Trotzdem weist Obama zu Recht die These zurück, al-Qaida habe sich zu einem staatenlosen, rein virtuellen Netzwerk entwickelt, das seine Anschläge von überall und nirgendwo vorbereiten kann. Wie der Terrorexperte Peter Bergen darlegt, hat die al-Qaida ihre Machtbasis nach wie vor in dem puschtanisch dominierten Gebiet, das sich vom Süden und Osten Afghanistan bis ins nordwestliche Pakistan erstreckt. Osama bin-Laden und Ayman al-Zawahiri hätten vermutlich beide in örtliche Stämme eingeheiratet, und auch die Trainingslager seien dort konzentriert.
Doch die wachsende Bedeutung des Jemen und seiner gescheiterten Nachbarstaaten wie Somalia verweist auf die ungeheuren Schwierigkeiten, vor denen Obama im Mittleren Osten steht. Ganz zu schweigen von alten Problemen wie den Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern, einem Karren, den auch ein profilierter Sonderbotschafter bislang nicht aus dem Schlamm zu ziehen vermochte. Im Irak bleibt al-Qaida weiterhin aktiv, und die Stabilität der irakischen Regierung und Armee läßt noch einiges zu wünschen übrig. Noch mehr Kopfschmerzen bereitet der US-Regierung der Iran. Um die heiklen diplomatischen Verhandlungen über die nuklearen Ambitionen des Landes nicht zu gefährden, zögert man, der Opposition offen Unterstützung zu leisten.
Von Beginn an mußte sich Obama seine mangelnde politische Erfahrung als Schwäche seiner Präsidentschaft vorwerfen lassen. Tatsächlich hat es manchmal den Anschein, als sei er so naiv, an seine eigene Rhetorik einer „Welt ohne Waffen“ zu glauben. Seine Entscheidung, nun doch keinen Raketenschild in Polen und Tschechien zu errichten, verstanden die Russen als Entwarnung, nicht länger um ihre Hegemonie in der Region fürchten zu müssen. Die vorläufige Beendigung der Repatriierung jemenitischer Guantánamo-Häftlinge könnte ein Weckruf bezüglich der Behandlung feindlicher Kombattanten als Kriminelle sein (JF 31-32/09).
Notwendige Abstriche bei den unrealistischen Erwartungen
Verglichen mit Jimmy Carters oder Bill Clintons Präsidentschaft war Obamas erstes Amtsjahr trotz allem relativ erfolgreich. Mit dem Fiasko im Irak und der schwersten Rezession seit Jahrzehnten trat er ein schweres Erbe an und konnte eine noch schlimmere Katastrophe abwenden. Fairerweise muß man Abstriche bei den unrealistischen Erwartungen machen, die seine Anhänger im In- und Ausland an ihn stellten. Manche von ihnen hielten ihn anscheinend für einen Magier, der nur seinen Zauberstab zu wedeln brauchte, um die USA zu einer „progressiven“ Ideologie zu bekehren. An dem Witz, er habe den Friedensnobelpreis für seine guten Absichten gewonnen, ist zwar durchaus etwas dran. Immerhin ist es ihm aber gelungen, Amerikas Ansehen in der Welt zu verbessern, ohne auf die Durchsetzung amerikanischer Interessen zu verzichten oder sich dafür zu entschuldigen.
Was die innenpolitische Arena angeht, so wird er in naher Zukunft ein Gesetz unterschreiben können, das die Zahl der Versicherten von heute 87 auf 94 Prozent erhöhen und so das Ziel einer Krankenversicherung für alle, an dem seit Woodrow Wilson schon einige demokratische Präsidenten gescheitert sind, näherrücken lassen wird.
Vor einem Jahr schien das Weltwirtschaftssystem am Abgrund zu stehen. Daß es nicht zum totalen Zusammenbruch gekommen ist, ist nicht zuletzt Obamas finanzpolitischer Expertenriege, allen voran Finanzminister Tim Geithner, sowie der regierungsunabhängigen Notenbank (Fed) zu verdanken. Der Preis dafür sind steigende Schulden, eine langsame Erholung und womöglich eine hohe Inflation.
Ähnlich wie andere demokratische Visionäre vor ihm – John F. Kennedy oder Lyndon B. Johnson – trat Obama sein Amt in der Hoffnung an, die US-Gesellschaft oder gar die Welt verändern zu können. Johnsons Ideal einer „Great Society“ scheiterte an den Kosten des Vietnamkriegs. Obamas Ehrgeiz, „parteiübergreifende“ Ziele durchzusetzen, dabei die Rolle des Staats auszudehnen und notwendige Reparaturen an Bildungssystem und Infrastruktur vorzunehmen, steht nicht nur eine lautstarke Fundamentalopposition entgegen, sondern auch die hohen Ausgaben für zwei Kriege, Rettungs- und Konjunkturpakete. Auch die verfahrenswichtige demokratische Drei-Fünftel-Mehrheit im Senat droht mit dem bevorstehenden Rückzug zweier Schlüsselfiguren, Byron Dorgan (North Dakota) und Chris Dodd (Connecticut), zu kippen.
Nicht die Wahlversprechen der Vergangenheit, sondern die Anforderungen der Zukunft bestimmen die Prioritäten des Präsidenten. Nachdem der Mühlstein der Realität alle erhabene Rhetorik von Hoffnung und Wandel zermalmt hat, beginnt erst die eigentliche Bewährungsprobe dieses jungen und immer noch unerfahrenen Präsidenten.
Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco.
Foto: Barack Obama steigt aus der Airforce One: Hohe Ausgaben für zwei Kriege und die Rettungspakete