Häufig sagt ein Augenblick der Totenstille in einem vollbesetzten Saal weit mehr über die Gedanken und Gefühle des Publikums aus als Applaus. Für einen Augenblick hätte man eine Stecknadel fallen hören, als der Literaturkritiker Helmuth Karasek auf dem Kongreß der CDU/CSU-Bundestagsfraktion „Wandel durch Erinnerung“, der Mitte vergangener Woche im Bundestag stattfand, die Frage stellte, warum deutsche Repräsentanten den „unerträglichen Äußerungen aus Polen gegen die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach“, derart „wenig entgegensetzen“.
Es mag ein Zufall gewesen sein, daß Karasek diese Äußerung genau in dem Augenblick machte, als Bundeskanzlerin Angela Merkel den Raum betrat. Dennoch paßte sie perfekt zu dem Bild, welches Merkel auch bei ihrer kurzen Ansprache am Vortag auf dem Jahresempfang des Bundes der Vertriebenen (BdV) im Berliner Opernpalais hinterlassen hatte. Denn dort hatte sie zwar von „Angriffen“ auf Steinbach gesprochen, „die jeder Grundlage entbehren“ . In welcher Form die Kanzlerin und ihre Partei jedoch in Zukunft gegen derartige Angriffe aus dem Nachbarstaat vorgehen werden, die letztlich den BdV dazu zwangen, auf die Nominierung Steinbachs für die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung zu verzichten, blieb dagegen offen.
Zu einem „Gang nach Canossa“, zu dem manche den Besuch des BdV-Empfangs durch die Bundeskanzlerin stilisierten, wäre Merkels Auftritt zwar ohnehin nicht geworden. Wie bei ihren beiden bisherigen Teilnahmen wurde die Bundeskanzlerin mit freundlichem Applaus empfangen und verabschiedet, wenn dieser auch geringer als in den vergangenen Jahren ausfiel. Direkte Mißfallensäußerungen waren bei ihrer Ansprache nicht zu hören. In der kurzen Rede betonte Merkel einerseits, daß für sie „immer klar“ gewesen sei, „daß der BdV natürlich wie jeder andere Verband auch das Recht der Benennung seiner Vertreter“ für den Stiftungsbeirat habe. Warum dieses Recht des BdV nach dem aktuellen Stand jedoch nicht auch in der Praxis umgesetzt werden kann, begründete die Bundeskanzlerin lediglich mit „Umständen“, die bereits „benannt worden“ seien.
Zuvor hatte Steinbach möglichen Unmutsäußerungen gegen Merkel bereits dadurch die Spitze genommen, indem sie betonte, daß deren „Engagement für den Bund der Vertriebenen“ und die Vertriebenen „nicht nur als Klientelbetreuungsaktion“ zu verstehen sei. Ohne Merkels persönliches „Zutun und Wollen“ hätte es die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung nicht gegeben, sagte Steinbach.
Zu welchem taktischen Kurs die BdV-Chefin indes gezwungen ist, wurde in dem Augenblick deutlich, als Steinbach in ihrer Eröffnungsrede nicht nur die Journalisten begrüßte, sondern diese auch ausdrücklich „für ihre zumeist faire Berichterstattung“ lobte. Bei dieser Bemerkung waren dann allerdings doch mehrere deutliche Zeichen des Widerspruchs nicht zu überhören.
Auch auf dem Kongreß „Wandel durch Erinnerung“, auf dem über den gegenwärtigen Stand der „Politik für Heimatvertriebene und Spätaussiedler“ in Deutschland diskutiert wurde, gab es für die Unionsparteien nicht nur Beifall. Neben der Bemerkung Karaseks äußerte der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, Adolf Fetsch, deutliche Kritik an der Politik der Christdemokraten gegenüber den zwei Millionen Deutschen, die seit 1988 in die Bundesrepublik kamen. Viele von ihnen fühlten sich von der CDU nicht mehr vertreten. Während Mitte der neunziger Jahre noch rund 80 Prozent der Deutschen aus Rußland bei Wahlen der Union ihre Stimme gegeben hätten, sei deren Zahl seither stark gesunken. Eine wesentliche Ursache dafür liege in der deutlichen Kürzung der Eingliederungshilfen unter der Kohl-Regierung in den neunziger Jahren, so Fetsch. Zudem erschwere die Bezeichnung „Aussiedler“ die Integration in die deutsche Gesellschaft. Der von den Betroffenen empfohlene Begriff „Heimkehrer“ sei jedoch von der damaligen Bundesregierung abgelehnt worden.
Steinbach beließ es auf dem Kongreß dabei, die Ereignisse der vergangenen Wochen mit den Worten „momentan überbordende Abwehrreflexe“ zu charakterisieren. „Aber ich bin mir sicher, daß sich auch dies ändern wird“, sagte sie. Weiterhin stehe die Errichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen, in dem ein „wahres und gerechtes Geschichtsbild gezeichnet werden“ solle, im Mittelpunkt aller Anstrengungen des Verbandes. Dieses werde nach seiner Errichtung einen wesentlichen Anlaufpunkt für all jene darstellen, die sich für das Ziel einsetzen, „Vertreibungen als Mittel der Politik weltweit zu ächten“.
Merkel hob in ihrer Abschlußrede die Bedeutung des geplanten Vertriebenenzentrums als „Ort der Begegnung und des Dialogs“ hervor. Die Umsetzung dieses Vorhabens werde auch die Möglichkeit geben, „die Beziehungen zum Nachbarn zu stärken“ und nicht zu schwächen. Die Unionsparteien hätten sich „für diesen Weg“ entschieden und ließen sich davon auch nicht „durch die Ereignisse der letzten Wochen ablenken“.
Foto: Angela Merkel umarmt Erika Steinbach: Alles andere als ein Gang nach Canossa