Auch wenn es in Brüssel niemand zuzugeben wagt, so sind doch die Zeichen eindeutig: Auf der Weltbühne droht die EU in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der Glaube, zumindest als Staatenbund könnten die Europäer ihren einstigen globalen Einfluß aufrechterhalten, erweist sich mehr und mehr als Illusion. Wahrend in den Überlegungen der EU die Volksrepublik China noch nie eine so große Rolle gespielt hat wie gegenwärtig, ist Brüssel aus Pekinger Sicht unwichtig geworden: „Die EU ist schwach, politisch geteilt und militärisch einflußlos. Wirtschaftlich ist sie ein Riese, aber wir fürchten sie nicht länger, weil wir wissen, daß die EU China mehr braucht als China die EU“ – mit diesen desillusionierenden Worten, die indes nichts als die Realität widerspiegeln, wird einer der einflußreichsten chinesischen Wissenschaftler in einer Studie des European Council of Foreign Relations (ECFR) zitiert.
Die Abkühlung der beiderseitigen Beziehungen zeigte sich schon ganz deutlich auf dem EU-China-Gipfel Mitte Mai in Prag, der ohne gemeinsame Erklärung endete. Chinas Premier Wen Jiabao verbat sich in scharfem Ton jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten seines Landes, weil die EU in einem Passus des geplanten Kommuniqué eine „friedliche Lösung der Taiwan-Frage“ fordern wollte. Gleichwohl sprach Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso zum Abschluß des Treffens von einer „starken Beziehung“, die ausgebaut werden müsse.
Mit diesem aus Selbstüberschätzung gespeisten Realitätsverlust hat jetzt William Hague aufgeräumt. Der Schatten-Außenminister im Team David Camerons, des Parteichefs der britischen Konservativen, die im nächsten Jahr höchstwahrscheinlich die Labour-Regierung ablösen werden, skizzierte Ende Juli die geplante Neuausrichtung der Londoner Außenpolitik, was unter EU-Diplomaten zu beträchtlicher Aufregung führte.
Wie Großbritannien werde ganz Europa an Bedeutung verlieren, erklärte Hague in einer Rede am Internationalen Institut für Strategische Studien. Im Jahr 2050 werde Europa nur noch zehn Prozent der globalen Wirtschaftsleistung erzielen, dann seien Wirtschaftssanktionen nicht mehr als Waffen einsetzbar. Die Verschiebung der ökonomischen Kräfte hin zu China und Indien werde die Möglichkeiten westlicher Nationen, ihre außenpolitischen Ziele durchzusetzen, so stark minimieren, daß sie anderen Ländern nicht länger vorschreiben könnten, wie sie zu regieren hätten.
„Wir müssen uns daran gewöhnen, daß es mehr Situationen geben wird, die uns nicht gefallen, die wir aber nicht direkt ändern können“, resümierte Hague. Allerdings werde eine konservative Regierung Großbritanniens schwindende Rolle in der Welt nicht einfach hinnehmen, sondern versuchen, Londons Einfluß zu bewahren und auszubauen, wo es möglich sei. Dabei deutete Hague die Abkehr vom humanitär motivierten Interventionismus an und sprach sich für eine Rückkehr zur Realpolitik aus. So werde eine Tory-Regierung den Dialog mit befreundeten islamischen Ländern ausbauen, selbst wenn sie nicht dieselben demokratischen Maßstäbe teilten. Die Konservativen würden auch die Beziehungen zu Moskau verbessern, während das Verhältnis zu Washington „solide, aber nicht sklavisch“ sein sollte, sagte Hague unter Anspielung auf Tony Blair, den einstigen „Pudel“ (so britische Zeitungen) George W. Bushs.
Wie richtig, weil realistisch Hagues Einschätzung der sich abzeichnenden neuen Weltordnung ist, zeigte das amerikanisch-chinesische Gipfeltreffen, das in der letzten Juli-Woche in Washington stattfand. Spitzenpolitiker beider Großmächte erklärten, sie wollten gemeinsam die Weltwirtschaft stabilisieren, den drohenden Klimawandel bekämpfen und die Verbreitung von Atomwaffen verhindern. In einer Grundsatzrede sagte Präsident Barack Obama: „Die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und China wird das 21. Jahrhundert prägen.“ Peking sei Washingtons „wichtigster Partner“. Kleinlaut und bescheiden gaben sich dabei die Vertreter der USA, die früher stets als erstes ihr Mantra der Menschenrechte hatten erklingen lassen. Diesmal kaum ein Wort davon – zu tief stehen die Amerikaner in der Schuld der Chinesen, die mit schätzungsweise zwei Billionen Dollar mittlerweile die größten Gläubiger der USA sind.
Öffentlich mußte die US-Delegation versichern, man werde die gewaltige Staatsverschuldung zügig abbauen, sobald die Rezession überwunden sei. Und Finanzminister Timothy Geithner versprach, seine Regierung werde sich für mehr chinesische Stimmrechte im Weltwährungsfonds einsetzen. Dies dürfte dazu führen, daß Europas Gewicht im IWF geschwächt wird. Doch von Europa war in Washington sowieso nicht die Rede – offensichtlich haben sowohl die Amerikaner als auch die Chinesen die EU als ernst zu nehmenden Mitspieler auf der Weltbühne bereits abgeschrieben. Kishore Mahbubani, Politikprofessor und Chef der Lee-Kuan-Yew-Schule für Regierungsführung in Singapur (JF 19/09), konstatierte in der Zeit: „Der Westen stellt zwölf Prozent der Weltbevölkerung und will über den Rest mitbestimmen. Das läßt sich nicht mehr halten.“ Ob diese Botschaft nicht nur in London, sondern auch in Berlin angekommen ist, wird sich nach dem 27. September erweisen.
Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Buchautor und Publizist. Auf dem JF-Forum schrieb er zuletzt über die Renaissance des Konfuzianismus in China: „Im Einklang mit dem Weltgesetz“ (JF 17/09).