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Verrückte DDR-Realität

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Für die Welt ist der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) bereits ein „Fall“. Das Springer-Blatt wandelt auf der Spur der Süddeutschen Zeitung, die am 25. Oktober verbreitete, wegen „einer heiklen Empfehlung“ stehe Althaus „in der Kritik“. Noch am 9. November 1989 habe er sich in einem Brief an den Bezirksausschuß für Jugendweihen (das staatskonforme, quasi-verbindliche Ini­tiationsritual, welches die SED an die Stelle der Konfirmation gesetzt hatte) „für den Leninismus ausgesprochen“. Daraus fabrizierte die Welt die Überschrift: „Dieter Althaus’ Forderung nach mehr Marxismus“. Er sei „wegen seiner DDR-Vergangenheit in Bedrängnis“ geraten. (Wann wird endlich jemand wegen seiner „BRD-Vergangenheit“ bedrängt?) Da mochte Spiegel Online nicht nachstehen und meldete: „Althaus warb am Tag des Mauerfalls für mehr Marxismus-Leninismus“. Der thüringische SPD-Vorsitzende Christoph Matschie wurde mit der Aussage zitiert, die CDU sei „mit ihrer Geschichte der Linken näher, als ihr lieb“ sei. Die Thüringer Allgemeine aus Erfurt pflichtete ihm bei. Zwischen der SED und der Ost-CDU, der Althaus angehörte, gebe es keinen Unterschied. Kein Grund also für die Union, sich moralisch überlegen zu fühlen. In Thüringen herrscht Vorwahlkampf. Der bekennende Katholik Althaus war 1989 stellvertretender Schulleiter im tiefkatholischen Eichsfeld, wo sich, unangefochten vom DDR-Staat, eine lebendige Volkskirche erhalten hatte. Aus seinem inkriminierten Brief wurden folgende Sätze zitiert: „Ich bin der Meinung, die Jugendweihe sollte sich auf die Geschichte besinnen. Als Tradition der freireligiösen Vereinigungen (seit 1859) sollte die Jugendweihe wieder den Inhalt einer marxistisch-leninistischen Weltanschauung haben. Sie sollte allen nicht religiösen Schülern die Möglichkeit zu einem Bekenntnis geben.“ Weiterhin: „Christliche Schüler, besonders in einem geschlossenen katholischen Gebiet wie dem Eichsfelds, sind nicht mehr gewillt, an der Jugendweihe teilzunehmen“, ihr „wehrhaft staatsbekennender Charakter“ werde nicht mehr akzeptiert. Wo ist das Problem? Den Genossen wird erklärt, sie sollen ihre Feste weiter feiern, auch mit Marxismus-Leninismus, doch nicht mehr in der Schule und ohne Zwangsmissionierung von Andersdenkenden und -gläubigen. Die Journalisten der Süddeutschen, der Welt und Spiegel Onlines sind nicht in der Lage, Texte in ihrem historischen Kontext zu lesen und sie im Licht der Erfahrungen, die über diesen Kontext gewonnen wurden, angemessen zu bewerten. Der Bezug auf den Marxismus-Leninismus war in der DDR ein übliches und notwendiges Sprachspiel. Wer mit Beschwerden oder Eingaben bei Behörden etwas erreichen wollte, leitete sie mit einem Bekenntnis zu Marx und Honecker ein. So sicherte er sich gegen den Verdacht staatsfeindlicher Bestrebungen ab und zwang die Beschwerdeinstanz, sein Anliegen wenigstens formal ernstzunehmen. Andernfalls würde der Beschwerdeführer sich an die nächsthöhere Instanz wenden und darauf hinweisen, daß die zukunftsweisende Politik Erich Honeckers von der unteren Instanz sabotiert werde. Das war verrückt, aber die unhintergehbare DDR-Realität. Außerdem setzte Michail Gorbatschow seine Glasnost und Perestroika mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Marx und Lenin in Gang, so daß die Berufung auf die Klassiker des Marxismus-Leninismus zuletzt fast subversiv wirkte. Das Datum des 9. November trägt Althaus den Vorwurf des verinnerlichten Opportunismus ein. Der habe ihn noch in dem Moment, da die DDR stürzte, einen überflüssigen Kotau vor ihrer Staats­ideologie vollziehen lassen. Nur wußte in der Frühe des Tages kein Mensch, daß am Abend die Mauer fallen würde. Erst im Juni 1989 hatte die Ministerin für Volksbildung, Margot Honecker, auf einem zentralen Lehrerkongreß gefordert, die Jugend des Landes müsse bereit sein, den Feinden des Sozialismus „mit der Waffe in der Hand“ entgegenzutreten. Bis zum 9. Oktober 1989, als die Leipziger Montagsdemonstranten eine Vorentscheidung erzwangen, war ein Blutbad möglich. Auch danach hatte die SED alle entscheidenden Positionen inne. Und schließlich stand die Rote Armee mit 400.000 Soldaten im Land und hatte die Sowjetunion das letzte Wort. In dieser Situation war der Brief von Althaus zwar nicht revolutionär, aber hochpolitisch. Vom Anliegen, das er formulierte, verstand der Schreiber erkennbar etwas. Warum dann die künstliche Aufregung? Im Sommer 2009 wird in Thüringen gewählt. Die Linke hat Aussichten, zur stärksten politischen Kraft werden, eine rot-rote Koalition wäre möglich. Die SPD ist koalitionswillig, unter der Bedingung, selber den Ministerpräsidenten stellen zu können. Nur traut kein Mensch ihrem Spitzenkandidaten Matschie dieses Amt zu. Um zu verhindern, daß die Union den alten Widerwillen gegen die SED mittels einer Rote-Socken-Kampagne gegen die Linke aufs neue mobilisiert, werden die DDR-Blockparteien, die in der CDU und FDP aufgegangen sind, mit der SED auf dieselbe Stufe gestellt. Das ist zwar eine groteske Verzeichnung der Verhältnisse, doch weil die West-Ost-Linke in Thüringen — und darüber hinaus — die Presse fest im Griff hat, kann sie dieses Zerrbild medial durchsetzen. Die Thüringer Allgemeine, die Thüringische Landeszeitung (Weimar) und die Ost-thüringische Zeitung (Gera) gehören zur SPD-nahen WAZ-Gruppe, das in Suhl erscheinende Freie Wort zur Süddeutschen Verlagsgruppe, die aus der Süddeutschen Zeitung hervorgegangen ist. Dahinter wird ein weitergehendes  strategisches Ziel erkennbar. Die Geschichte der DDR soll umgedeutet, der unblutige Verlauf ihres letzten Kapitels den Reformkräften in der SED gutgeschrieben werden. Gelingt es der Linkspartei, diese Lüge als ihren ureignen, positiven Traditionsstrang in das öffentliche Bewußtsein zu implantieren und gegen das Negativerbe der Blockparteien in Stellung zu bringen, dann ist ihre kulturelle Hegemonie zementiert und wir werden uns mehr denn je von alten und neuen Partei- und FDJ-Sekretären über den wahren Charakter der Demokratie belehren lassen müssen. Foto: Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU): Nicht revolutionär, aber hochpolitisch

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