Anläßlich des jüngsten Waffengangs im Kaukasus kam die Krim-Frage wieder in die Diskussion. Georgische und Politiker aus den östlichen EU-Staaten sowie auch der französische Außenminister Bernard Kouchner äußerten Befürchtungen, die Halbinsel Krim könnte sich zum nächsten Krisenherd mit Rußland entwickeln. Der russische Außenminister Sergej Lawrow wies Spekulationen, „daß wir bald Moldawien, die Ukraine und die Krim angreifen werden“, als „krankhafte Phantasie“ zurück. Aber der Hauptteil der russischen Schwarzmeerflotte (die auch gegen Georgien im Einsatz war) ist in der bis 1991 hermetisch abgeriegelten Hafenstadt Sewastopol stationiert. Der Pachtvertrag von 1997 läuft 2017 aus, der ukrainische Staatspräsident Viktor Juschtschenko will ihn nicht verlängern. Die russische Flotte bietet zahlreiche Arbeitsplätze. Teile der russischsprachigen Bevölkerung der Krim befürworten eine Beibehaltung des Status quo oder sogar einen Anschluß an Rußland. Herr Klymenko, wie stellen sich die Fakten aus historischer Perspektive dar? Klymenko: Ein Blick auf die Landkarte Europas sollte genügen, um zu sehen, wie weit weg die Krim vom russischen Kernland liegt. In den antiken Zeiten besiedelten sie die iranischstämmigen Skythen, dann die griechischen Kolonisten, später lebten hier genuesische und ukrainische Siedler, Juden und Armenier. Mitte des 15. Jahrhunderts ließen sich die Tataren nieder. Die Gründung des Krim-Khanats, eines Vasallen der Türkei, wurde zur permanenten Bedrohung für Südosteuropa. Zu den berühmtesten Tataren-Gefangenen zählte ein Mädchen aus Rohatyn (in Galizien, heute Bezirk Iwano-Frankiwsk). Verkauft auf dem Sklavenmarkt von Konstantinopel, war sie später als Roxolana bis zu ihrem Tod 1558 Lieblingsfrau des türkischen Sultans Süleyman I. 1651 geriet die zerrissene Zentral- und Ostukraine unter die Herrschaft des Moskauer Staates, der sich 1721 Rußland nennt. Unter Katharina der Großen wurde die Krim 1783 ins Zarenreich eingegliedert. Wie in der Ukraine begann auch auf der Krim eine beispiellose Russifizierungs- und Deportationswelle der einheimischen Bevölkerung. Hinzu kam die Besiedelung der neuen Gebiete durch russische und deutsche Kolonisten. Unter der Sowjetherrschaft wurde der ethnische Genozid fortgesetzt. Seine destruktiven Folgen sind immer noch in der heutigen Ukraine in Gestalt der russischsprachigen Minderheit spürbar. Dennoch war die Krim bis 1954 nicht ukrainisch, sondern Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Klymenko: Vor dem von mir geschilderten Hintergrund die Krim als „ewiges russisches Territorium“ zu bezeichnen, das Nikita Chruschtschow 1954 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik „geschenkt“ hat, ist gelinde gesagt lächerlich. Am 9. August fand auf Kanal 5 des ukrainischen Fernsehens eine Diskussion zum Thema russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol statt. Zwei Drittel der Zuschauer vertraten die Meinung, dies stelle eine reale Gefahr für die Ukraine dar. Klymenko: Rußland ist Rechtsnachfolger der UdSSR. Hätte es aber keine imperialen Ambitionen mehr, so würde die Stationierung kein besonderes Problem darstellen. Die Ereignisse in Georgien zeigen jedoch, wie die kriegerischen Aktivitäten dieser Flotte imstande sind, zur potentiellen Quelle von Konflikten in diesem Teil der Welt zu werden. So wird ukrainisches Staatsgebiet de facto als Ausgangspunkt für Aggressionen Moskaus mißbraucht. Dies liegt nicht im nationalen Interesse der Ukraine. Souveräne Staaten können über die Anwesenheit oder Abwesenheit fremder Heere auf ihrem Territorium alleine bestimmen. Über den Status der russischen Flotte gibt es in der Ukraine differenzierte Meinungen. Doch angesichts des Angriffscharakters sollte diese Flotte besser heute als morgen unser Land verlassen — spätestens 2017. Bei jeder Nato-Übung mit Beteiligung ukrainischer Streitkräfte spricht Rußland Drohungen gegenüber der Ukraine aus. Wenn Rußland sich an Nato-Manövern selbst beteiligt, heißen die russischen Militärs ihre Nato-Kollegen mit Brot und Salz willkommen. Woher kommt das? Klymenko: Rußland hat sich sein imperiales Denken bewahrt. Darum ist es bemüht, hegemonialen Einfluß zurückzugewinnen — vorerst in der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS), zu der bislang auch die Ukraine und Georgien gehörten. In diesem Streben mißachtet Moskau nach sowjetischem Muster das Völkerrecht und die Souveränität der jungen Staaten. Wie sonst lassen sich die „offenherzigen“ Ausführungen Wladimir Putins auf dem Bukarester Nato-Treffen im Frühling erklären, wo er sagte, Rußland wünsche sich keine Nato-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine? Das sind arrogante Erklärungen, so als wären diese Länder heute noch lediglich Kolonien Moskaus. Was erwarten Sie denn? Klymenko: Wenn die internationale Völkergemeinschaft nicht den Mut findet, ebenso offen Rußland „Stopp“ zu sagen, blamiert sie sich selbst. Passivität und Unverbindlichkeit ermunterte in der Vergangenheit etliche Diktatoren zu verhängnisvollen Abenteuern. Unverhohlen mobilisiert und finanziert Moskau die Anti-Nato-Proteste der in der Ukraine lebenden russischen Diaspora. Heimlich verteilt es seinen „Landsleuten“ in der Ukraine die russische Staatsbürgerschaft — ähnlich wie in Südossetien und Abchasien. Russische Duma-Abgeordnete machen sich breit auf den Massenkundgebungen in unserem Lande, wo sie hemmungslos die ukrainischen Staatssymbole besudeln, unsere Sprache verspotten oder die Nato anschwärzen — so als befänden sie sich auf eigenem Territorium. Und nichts kann die zweifellos von langer Hand vorbereitete Intervention Rußlands in Georgien rechtfertigen. Heute entscheiden sich unser aller Schicksale und das von Europa in diesem kleinen Kaukasusland — unabhängig davon, ob jemand im Westen an den Ernst der Lage glauben will oder nicht. Wer braucht wen mehr — die Ukraine die Nato oder umgekehrt? Klymenko: Es handelt sich hier um gegenseitigen Nutzen. Für die Ukraine würde der Nato-Beitritt die Sicherheitsgarantie ihrer staatlichen Souveränität sowie endgültiges Verlassen des „russischen Orbits“ bedeuten. Für die Nato hingegen bedeutet dies die Verschiebung ihrer Außengrenzen Tausende Kilometer weiter nach den Osten, das heißt weit weg von seinen lebenswichtigen Zentren. Dieser Sachverhalt brächte Europa noch mehr Sicherheit — bei gleichzeitiger Stärkung seines Verteidigungspotentials. Aber als Nato-Mitglied würde die Ukraine von einem neutralen Nachbarn zu einer Gefahr für russische Interessen? Klymenko: Niemals. Solche Behauptungen gehören zum festen Bestandteil der dort seit Jahrhunderten lebendigen Psychose der „feindlichen Umzingelung“, die angeblich nichts anderes bezwecke als die Zerstörung Rußlands. Dieses alte Liedchen kennen wir in Osteuropa zu Genüge. Sein Zweck ist es, die eigenen archaischen Wahnvorstellungen auf die Nachbarn zu projizieren, um ihnen diese „Projektionen“ bei passender Gelegenheit in die Schuhe zu schieben. Hat sich jemand je im Westen gefragt, wie es möglich wurde, daß das 1305 gegründete winzige Fürstentum Moskau sich in fünf Jahrhunderten zu jenem Koloß vergrößern konnte, der ein Viertel der Erdoberfläche bedeckt? Möglich wurde das auf Kosten der neuen und immer wieder neuen Nachbarn, die das Fürstentum angeblich ewig „feindlich umzingelten“. Die Nato steht für uns für europäische Werte, die wir teilen, für Demokratie, Menschenrechte, gegenseitiges Vertrauen und Nichtaggression allen gegenüber — auch gegenüber Rußland. Und ob wir in die Nato gehen wollen oder nicht, darüber werden ausschließlich nur wir Ukrainer entscheiden und kein anderer. Daß manche Allianzmitglieder, darunter auch Deutschland, die Nato-Akzeptanz in Teilen unserer Bevölkerung bezweifeln, das tut mir leid. Es sei daran erinnert, daß die meisten westeuropäischen Staaten sich dieser Organisation anschlossen, ohne dazu ihre Bevölkerung zu fragen. Obwohl unsere Bürger jahrzehntelang massivster sowjetischer Anti-Nato-Propaganda ausgesetzt waren, nimmt ihre Sympathie dem Nordatlantischen Bündnis gegenüber rasant zu. Innerhalb der letzten zwei bis drei Jahre stieg diese von 14 Prozent auf mindestens 37 Prozent an! Das läßt sich mühelos erklären. Unsere Menschen erfahren jetzt ungehindert die Wahrheit über die Nato und ihre Ziele. Die Wahrheit — und keine Lügen, verordnet aus Moskau. Dr. Oleh Klymenko ist Historiker und Oberst a. D. der sowjetischen und der ukrainischen Armee. Er veröffentliche zahlreiche Beiträge und Bücher zum Spannungsfeld Polen—Ukraine—Rußland. Er ist Mitglied des Nationalen Journalistenverbandes der Ukraine und des Schewtschenko-Wissenschaftsverbandes im einst habsburgischen Tarnopol (Ternopil).