Vor einem Jahr erschütterten sechs blutige Morde die Bevölkerung von Duisburg. Am 15. August 2007, dem italienischen Ferragosta, wurden nach einer Geburtstagsfeier und einem Ritual, mit dem der 18 Jahre alte Tommaso in die ‚Ndrangheta – das organisierte Verbrechen von Kalabrien – aufgenommen wurde, sechs Italiener im Alter zwischen 16 und 39 Jahren vor der Duisburger Pizzaria „Da Bruno“ erschossen. Sie wurden im Auto nach der Feier erbarmungslos abgeknallt. Sie hatten keine Überlebenschance. Die Täter flüchteten. Von Anfang an gingen die deutsche und die italienische Kriminalpolizei davon aus, daß es sich bei dieser grausamen Bluttat um eine Fehde zwischen zwei rivalisierenden Clans – dem der Vottari-Pelle-Romeo und dem der Nirta-Strangio – handelte. Denn Mörder und Ermordete stammten allesamt aus dem kalabrischen Bergdorf San Luca. Die Fehde wurde Weihnachten 2006 ausgelöst, als in San Luca die Ehefrau eines hochrangigen Mitglieds aus dem Clan Strangio-Nirta erschossen wurde. Die 33jährige Maria hatte sich noch schützend vor ihr fünfjähriges Kind gestellt, das dennoch verletzt wurde. Im Gegenzug wurde im Januar 2007 ein männliches Mitglied des Vottari-Romeo-Pelle-Clans in San Luca ermordet. Zwei der Duisburger Opfer werden dieser Mafia-Familie zugeordnet, die vor allem im Waffen-und Drogenhandel tätig war. Neu war, daß das organisierte Verbrechen erstmals in Deutschland zuschlug, also außerhalb seines traditionellen Einzugsgebietes in Süditalien. In den nachfolgenden Monaten konnten die italienischen und deutschen Ermittler fast alle gesuchten Täter – bis auf Giovanni Strangio – festnehmen. Doch nun kommt neue Kunde aus der Provinz Reggio Calabria: Die Carabinieri nahmen jetzt in San Luca Maria Pelle (32), Antonella Vottare (33) und Giulia Liana Benas (68) fest. Alle drei Frauen werden beschuldigt, die Geschäfte ihrer einsitzenden Männer weitergeführt zu haben. Denn fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die „rosarote“ Kriminalität seit rund zehn Jahren im Steigen. Gab es Anfang der 1990er Jahre noch die Hoffnung, daß die Ehefrauen, Schwestern und Töchter der Bosse einsichtiger wären, um „die Mauern des Schweigens zu sprengen“, so beweisen die Fälle in allerjüngster Zeit, wie stark nun der Einfluß der Frauen im organisierten Verbrechen geworden ist. Ob Mafia, Camorra, ‚Ndrangheta oder Sacra Corona – die vier Verbrecherorganisationen, die jeweils in Sizilien, Kampanien, Kalabrien und Apulien tätig sind -, die Justiz stößt immer wieder auf Frauen, die ohne Zwang bereit sind, die Rolle der Männer zu übernehmen. So haben sich die Zahlen der Frauen in der organisierten Kriminalität seit zehn Jahren schlagartig erhöht: Allein um 600 Prozent stiegen die Fälle, in denen Frauen bei der Geldwäsche erwischt wurden. Immer mehr Frauen werden verurteilt, weil sie einer kriminellen Vereinigung angehören, Rauschgift, Erpressung, Raub und sogar Mord wird ihnen vorgeworfen. Es gibt genügend Fälle, in denen Frauen aus dem Bannkreis der stummen Gleichgültigkeit ausscherten – diesem Verharren in einem archaischem Schweigen, das bisher als Wesensmerkmal für das Verhalten der Frauen im organisierten Verbrechen galt. Bisher hatten die Frauen der Clans die Rolle der still Mitwissenden oder der laut Trauernden und dann der verstummenden Hinterbliebenen zu akzeptieren oder zu ertragen. Doch der gesellschaftspolitische Wind hat sich gedreht, die Emanzipation ist auch in Mafia-Kreise eingedrungen. So schreibt die deutsche Soziologin Renate Siebert in ihrem Buch „Mafia und Gesellschaft“, daß immer mehr Frauen zu wahren Hardlinern der Cosa Nostra geworden wären. Sie übernahmen freiwillig die Aufgaben in den kriminellen Organisationen, wenn die Justiz die Hintermänner dingfest gemacht hatte. Ein Beispiel für diesen Wandel war die sizilianische Mafia-Familie Laudani. Der „Boß“ war nämlich weiblich: hieß Concetta Scalisi. Die junge Frau kleidete sich wie ein Mann – weiße Blusen, dunkle Anzüge -, und sie tötete auch wie ein Mann; wie ein Gewohnheitskiller knallte sie mit ihrer Magnum ab, was ihrem Vorhaben im Wege stand. Drei Morde konnte ihr die Staatsanwaltschaft schließlich nachweisen. Concetta hatte die Geschäfte ihres ermordeten Vaters übernommen, die aus Drogenhandel und Erpressung bestanden. Als dann ihr Bruder von konkurrierenden Clans in die Luft gesprengt wurde, trat sie seine Nachfolge an. Concetta ist eines der Beispiele für eine grundlegende Veränderung in den Strukturen des organisierten Verbrechens: Nun sind sogar die Patinnen bereit, die Macht zu übernehmen. Sie treten an die Stelle ihrer Väter und Brüder, die entweder in Gefängnissen zu langen Haftstrafen verurteilt – oder aber von Rivalen aus dem Weg geräumt wurden. Die verschärften Haftstrafen der italienischen Anti-Mafia-Gesetze gegen das organisierte Verbrechen führen dazu, daß immer mehr Mafia-Frauen in Führungspositionen aufsteigen. Ohne die Frauen der im Gefängnis isolierten Mafiosi liefe das Geschäft nicht mehr. Denn die Frauen sind die einzigen, die mit den Männern kommunizieren dürfen. Rosetta Cutolo zum Beispiel war eine „donna d’onore“. Jahrelang führte Rosetta die Nuova Camorra Organizzata (NOC) für ihren Bruder Raffaele, einen berüchtigten Boß der Camorra im Umland von Neapel. Seitdem der Mafioso eine langjährige Haftstrafe verbüßen muß, besuchte ihn seine Schwester regelmäßig im Gefängnis. Sie brachte ihm saubere Unterwäsche und schrieb präzise alle Wünsche ihres inhaftierten Bruders auf. Manche las sie ihm allerdings von den Augen ab. Ein Wimpernschlag, eine winzige Geste genügte – und Rosetta verstand. Sie hatte sich nicht nur völlig in die Seele, sondern auch in die tödlichen Gedanken ihren mafiosen Bruders eingeklinkt. Und für sie schien es völlig normal, daß sie nach seiner Verhaftung in seine Rolle vollständig schlüpfte. Rosetta regierte mit eiserner Hand den Clan der Nuova Camorra. Immer wieder gab es Bandenkriege; Rosetta Cutolo gab mit eiskalter Miene die Todesurteile weitere. Doch irgendwann wurde Rosetta im Alter von 57 Jahren selber verhaftet. Seit Jahren sitzt sie ein. Doch neulich hörte man wieder von ihr: im Zuge der Resozialisierung und aufgrund ihrer guten Führung darf sie im Gefängnis Theater spielen. Keiner der Zuschauer ahnt, daß diese stolze „Schauspielerin“, die das Publikum zu Tränen rühren kann, längst auf einer ganz anderen Bühne Furore gemacht hatte: war sie doch einst in Unterweltkreisen gefürchtet, galt als die „Frau mit den Augen aus Eis“. Von Reue hat man von dieser „Lady-Boss“ bisher nichts gehört. Ein anderes Beispiel dieser neuen „Emanzipationswelle“ in Mafia-Kreisen: Daniela, blutjung, klein, schwarzhaarig und schwanger. Sie lebt in den gefährlichen und berüchtigten „Quartieri spagnoli“ von Neapel, wo sie geboren und groß geworden ist. Hier, wo die Gassen dunkel und schmutzig sind; wo bunt nur die Glühbirnen leuchten, die vor den Mauernischen der Madonna stehen, wuchs sie auf in einer vielköpfigen Camorra-Familie und lernte hauptsächlich das, was man nicht in der Schule erfährt. Als die Carabinieri bei einer Razzia ihren 15jährigen Bruder auf frischer Tat ertappten, wie er mit Drogen dealte, wurde Daniela nicht nur zur Furie, sondern fast zur Mörderin. Denn unter den Augen der gaffenden Mitbewohner zog sie die Pistole des Carabinieri, der ihren Bruder verhaftete, aus dem Halfter und hielt sie ihm an die Stirn. Und die drückte skrupellos ab: Nicht einmal, sondern auch in zweites Mal – doch nichts geschah. Die Sicherung hatte dem Beamten sein Leben gerettet. Daniela wurde festgenommen und während sie ins Polizei-Auto stieg, schrie sie lauthals: „Und ich würde es wieder tun, denn ‚diese'“ – und sie wies auf die Carabinieri – „verdienen es nicht anders“. Es scheinen in Wahrheit die Frauen, die das Überleben der Mafia sicherstellen. Nicht nur, daß sie mit eiserner Hand die Geschäfte weiterführen, wenn die Mafiosi für Jahre hinter Gittern verschwinden, sondern die Frauen sind auch noch stolz darauf und überzeugt, daß sie richtig handeln, wenn sie Waffen schieben, schmutziges Geld waschen lassen und Morde rächen – tun sie es doch für die „Familie“. Für diese neuen „Patinnen“ ist es vor allem auch eine Frage der Ehre. So kann es geschehen, daß die Ehefrau eines Mafioso, der bereit war, die Seiten zu wechseln und mit der Justiz zusammenzuarbeiten und auszupacken, öffentlich herausschreit: „Mein Mann ist ein Infamer. Ich habe meinen drei Kindern gesagt, ihr habt keinen Vater mehr. Denn es wäre besser, er wäre im Mafia-Kampf erschossen worden, als daß er zum Verräter wird. Ich kenne ihn nicht mehr, denn ich halte die Ehre der Familie, er ist nur Schmutz, der mich anekelt.“ So sprach Giuseppina di Filippo, Tochter eines allmächtigen „Don“ in Sizilien. Doch es gibt viele Giuseppinas im Süden Italien, die in ihrer Rachsucht und Grausamkeit die Männer längst übertreffen. Wenn man jetzt die Fotos der beiden jungen Frauen aus San Luca sieht, so würde niemand je vermuten, daß hinter diesen „Madonnen-Gesichtern“ von Maria und Antonella, nur das gemeine Verbrechen steht – geschweige denn hinter dem der 68jährigen Großmutter Giuliana. Foto: Carabinieri vor Bildern von im Juli verhafteten Mitgliedern des Camorra-Clans von Casalesi: Immer mehr langjährige Haftstrafen