Die türkischen Drohungen der EU gegenüber haben wieder einmal ihre Wirkung nicht verfehlt. Als die Eröffnung der ersten Verhandlungskapitel wegen des Widerstands Zyperns auf des Messers Schneide stand, sinnierte der Premier Recep Tayyip Erdoğan über eine „neue Politik“ seines Landes gegenüber der EU, und sein Außenminister Abdullah Gül drohte mit einem Boykott des Außenministertreffens in Luxemburg. Die EU unter dem Vorsitz Österreichs war nicht in der Lage, aus diesem Verhalten Ankaras den richtigen Schluß zu ziehen und den Verhandlungsprozeß sofort abzubrechen. Obwohl die Drohgebärden einen Vorgeschmack dessen boten, was der EU im Falle einer Mitgliedschaft Ankaras droht, wurde ein fauler Kompromiß geschlossen – nur „das Gesicht zu wahren“. Ob die Zyprioten wegen der Aufforderung Brüssels, Ankara müsse das Zusatzprotokoll zur Zollunion mit den zehn neuen EU-Mitgliedstaaten endlich ratifizieren und damit den Inselstaat anerkennen, ihre Vetodrohung zurückgezogen haben, ist fraglich. Möglicherweise waren hier Drohungen der Türkenlobby gegenüber Zypern mit im Spiel. Als sich nämlich im Herbst 2005 Österreich gegen den Grundsatzbeschluß der EU sperrte, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, soll Washington gedroht haben, die Alpenrepublik werde die Folgen eines „Nein“ zu spüren bekommen. Fraglich ist auch, ob sich Ankara von der Warnung Brüssels, die Nichterfüllung der Verpflichtungen bezüglich Zyperns werde sich „auf den generellen Fortschritt in den Verhandlungen“ auswirken, beeindrucken lassen wird. Denn in der Vergangenheit haben die Türken auf die knieweiche Haltung der Europäer bestenfalls mit der halbherzigen Umsetzung der verlangten Reformen reagiert. Das beschämende Schauspiel rund um die Eröffnung der ersten Verhandlungskapitel mit Ankara zeigt, wie wenig fähig und willens die EU ist, klare Entscheidungen zu treffen. Aus diesem Fehlen an Entscheidungsfähigkeit heraus wurden den Türken in der Vergangenheit Versprechen gemacht, deren Einhaltung durch die Brüsseler Erweiterungsfanatiker heute Europa geradewegs in den Abgrund zu führen droht. Daß die EU-Bürger den Türkeibeitritt mehrheitlich ablehnen, wird ebenso beiseite geschoben wie die fortschreitende Reislamisierung des Landes. Und worin für Europa denn der angebliche Sicherheitsgewinn einer EU-Mitgliedschaft der Türkei läge, deren kurdische Siedlungsgebiete immer tiefer in bürgerkriegsähnlichen Zuständen versinken, bleibt nach wie vor unklar. Besonders perfide ist der Umstand, daß die EU die Verhandlungen mit dem Kapitel Wissenschaft und Forschung beginnen will, wo dem Vernehmen nach keine Probleme zu erwarten sind. Mit dieser Vorgehensweise wollen die Erweiterungsfanatiker die Weichen in Richtung Türkeibeitritt stellen. Wenn zu einem späteren Zeitpunkt die „harten Brocken (etwa Menschen- und der Minderheitenrechte) kommen, dann wird die Türkeilobby auf die abgeschlossenen Verhandlungskapitel verweisen und die Gegner des Türkeibeitritts unter Druck setzen. Aus „ergebnisoffenen“ Verhandlungen werden somit Scheinverhandlungen zur Wahrung der formalrechtlichen Vorschriften. Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung „Zur Zeit“ und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.
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