Herr Bondarenko, Ihre Landsleute sind vor der Parlamentswahl am 26. März verunsichert und fragen sich, wen man angesichts der Enttäuschungen, die man nach der „orangenen Revolution“ vom Dezember 2004 erlebt hat, noch wählen kann? Bondarenko : In der Ukraine gehören nur zwei Prozent der Bürger Parteien oder Bündnissen an. Deshalb wäre es sinnlos, von Parteien zu sprechen, die sich um die Belange des Volkes kümmern. Die Schlachten um die Sitze in der Werchownaja Rada (Parlament) sind im Grunde elitäre Spiele, für die das Volk nur als Stimmabgeber gebraucht wird. Mehr noch: Die Interessen derjenigen, die um diese Volksstimmen werben, gehen oft gegen die Interessen des Volkes. Und dies betrifft alle Parteien, welcher Couleur auch immer. Wieviel Zeit braucht die Ukraine für die Etablierung einer wirklichen Demokratie und einer soliden Parteienlandschaft? Bondarenko : Sehr bald werden wir mit Entwicklungen konfrontiert, die zwangsläufig dazu führen werden, daß die Bürger beginnen, sich am politischen Prozeß zu beteiligen. Zum Beispiel sagen die Wirtschaftsexperten voraus, nach der Präsidentschaftswahl stehe der Ukraine eine Massenarbeitslosigkeit bevor. Vor diesem Hintergrund wird es zu einer regen Entwicklung des Gewerkschaftslebens kommen. Auch die Prozesse der Privatisierung von Grund und Boden würden zur Verschärfung des Konfliktes zwischen den Großgrundbesitzern und dem Landproletariat führen, die Vertreter beider Gruppen werden ihre Interessen in der Politik zu verteidigen suchen. Bloß die alten durch die neuen Oligarchen ersetzt Die „orangene Revolution“ war also kein Impuls für die Etablierung einer Parteienlandschaft nach dem Muster der westlichen Demokratien? Bondarenko : Nein, denn die Bewegkräfte der Revolution wurden verraten. Sie dachten, nach der Revolution würde es zu wirklichen Veränderungen kommen, doch im Grunde unterscheidet sich Viktor Juschtschenkos Regierungsstil kaum von dem seines Vorgängers Leonid Kutschma. Das Kutschma-Regime setzte auf die Großbourgeoisie. Gleichzeitig wurden die sozialen Unterschichten vor den Wahlen mit gewissen Extras bestochen – wie etwa mit der Erhöhung der Renten und Gehälter um etwa 20 Griwnja (umgerechnet drei Euro). Kutschma wollte die Interessen der Mittelschicht nicht berücksichtigen. Doch diese Klein- und Mittelunternehmer wurden zum Motor der Revolution. Sie waren es, die Juschtschenko zur Macht verhalfen. Doch entgegen allen Erwartungen hat der neue Präsident nicht auf diese Mittelklasse nicht gesetzt. Er hat bloß die alten durch die neuen Oligarchen ersetzt. Das System blieb das alte. Hat die Ukraine es geschafft, sich 2005 von Rußland zu emanzipieren? Bondarenko : Ja, doch das geschah nicht dank der Fähigkeiten der ukrainischen Führung, sondern weil Rußland seine Positionen gegenüber der Ukraine überarbeitet hat. Rußlands neue Politik in bezug auf die Ukraine heißt: „Wenn ihr gehen wollt, dann geht bitte schön! Doch die Freuden eines Lebens ohne uns werden wir euch noch spüren lassen.“ Rußlands neue außenpolitische Doktrin unterscheidet sich wesentlich von der früheren, die beispielsweise von dem russischen Geostrategen Alexander Dugin („Eurasien“) erhofft oder seinem US-Kollegen Zbigniew Brzezinski befürchtet wurde (JF 3/06). Rußland baut eine neue Achse auf, eine transpazifische – mit China, Brasilien und anderen Staaten – als Gegengewicht zur transatlantischen Achse. Es kann durchaus sein, daß die Ukraine, die einmal so stark von Ängsten geplagt war, von allen möglichen Seiten erobert zu werden, daß sie auf einmal aufwacht und feststellen muß, daß keiner sie braucht. Das könnte für die Ukraine sehr bitter werden. Hat Rußland aus den Fehlern des letzten Wahlkampfs der Ukraine gelernt? Mischt es sich in diesmal nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der Ukraine ein? Bondarenko : Der Kreml hat aus seinen Fehlern gelernt. Doch mitmischen in der ukrainischen Innenpolitik – das macht der Kreml nach wie vor. Nachdem Präsident Wladimir Putin die Präsidentschaftswahl in der Ukraine verloren hat, bei der er nur auf einen Spieler (Viktor Janukowitsch) gesetzt hatte, setzt Moskau heute auf alle politischen Kräfte der Ukraine gleichermaßen. Was prägte den Parlamentswahlkampf? Bondarenko : Diese Kampagne ist im Grunde die vierte Runde der Präsidentschaftswahl. Weder die politischen Akteure noch die Wähler betrachten die Präsidentschaftswahl 2004 als abgeschlossen. Die Ukraine wurde danach nicht konsolidiert, es gibt nach wie vor zwei entgegengesetzte Zentren der Macht – den politischen Osten und den politischen Westen. Juschtschenko konnte nicht zum Präsidenten der Ostukraine werden. Janukowitsch konnte sich nicht als Oppositionsführer der Westukraine etablieren. Deshalb sind diese Wahlen für ihn eine Art Revanche, ein Versuch, nun das Parlament unter seine Kontrolle zu bekommen. Juschtschenko will bei dieser Wahl sowohl seinem Erzrivalen Janukowitsch als auch seiner Ex-Verbündeten Julia Timoschenko beweisen, daß sein Vertrauenskredit bei den Wählern noch lange nicht erschöpft ist und daß er als Präsident der gesamten Ukraine auftreten kann. Glauben Sie an die Wiederauflage der „orangenen Koalition“ von 2005? Bondarenko : Nein, sie hat ihre Potentiale erschöpft. Für Timoschenko ist die Macht eine Methode, ihre privaten Geschäftsinteressen durchzusetzen. Für Juschtschenko ist die Macht etwas, das er an Freunde, Verwandte und andere Menschen, denen er etwas zu schulden glaubt, vermieten kann. Was er mit der Macht anstellen sollte, wußte er nicht so richtig. Eine neue orangene Koalition wäre nur möglich, wenn Juschtschenko in das „Projekt Timoschenko“ ohne Wenn und Aber einwilligte. Kluft zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine Welche Regierung ist dann möglich? Bondarenko : Einerseits ist eine „Koalition der Oligarchen“ aus Janukowitschs Partei der Regionen der Ukraine und dem Block Timoschenkos möglich. Als dritter Partner könnte Sozialistenchef Alexander Moroz dazukommen, denn er ist Vorsitzender des Fonds für Staatsvermögen. Andererseits ist eine administrative Koalition aus Juschtschenkos Volksunion Unsere Ukraine mit der Partei der Regionen denkbar – was die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen beseitigen würde. Was bleibt dann noch von der „orangenen Revolution“? Bondarenko : Die orangene Revolution erinnert an die französische Revolution von 1830. Juschtschenko ist dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe von Orléans sehr ähnlich. Doch 1848 fand die zweite Phase der Revolution statt, und er wurde vertrieben. Ich fürchte, genauso kann es mit der Ukraine geschehen. Könnte Julia Timoschenko zum ukrainischen Napoléon III. werden? Bondarenko : Ich glaube schon, daß Timoschenko sich als ukrainischer Bonaparte sieht. Doch es gibt einige Hindernisse auf diesem Weg. Einerseits hat sie eine schwache Mannschaft. Politisch ist sie eher eine Einzelgängerin. Fällt Timoschenko aber als verbindendes Glied aus, fällt ihre ganze Mannschaft sofort auseinander. Anderseits kennt Julia Timoschenko kein Maß – auch in ihrer Machtsucht. weitere Interview-Partner der JF