Während in Deutschland und den neuen EU-Ländern viele glauben, den etablierten Parteien per Wahlenthaltung einen „Denkzettel“ zu verpassen, wissen die Niederländer, wie man eine bürgernähere Politik erzwingt. 2002 machten sie die Liste des kurz zuvor ermordeten Einwanderungskritikers Pim Fortuyn (LPF) aus dem Stand zur zweitstärksten Kraft. Die dann gebildete Koalition aus Christdemokraten (CDA), LPF und Rechtsliberalen (VVD) scheiterte zwar nach einigen Monaten. Doch bei den Neuwahlen 2003 kam erneut keine „einwanderungsfreundliche“ Mehrheit zustande, und CDA und VVD setzten ihren harten Kurs mit widerwilliger Unterstützung der Linksliberalen (D’66) fort. Sozialpolitik überlagerte Streitthema Einwanderung Speziell die VVD-Integrationsministerin Rita Verdonk setzte mit ihrer kompromißlosen Linie viele von Fortuyns Forderungen in die Praxis um (JF 46/05). Kurz vor der Wahl kündigte sie an, Burkas und andere Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit verbieten zu wollen. Doch während die strenge Einwanderungspolitik bei den meisten Niederländern auf Zustimmung und in den Medien auf Ablehnung stieß, war es bei der Sozialpolitik eher umgekehrt. Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe, der Rente oder den Berufsunfähigkeitsregelungen sorgten auch bei jenen für Unmut, die „rechts“ gewählt und damit die wirtschaftsliberalen Reformen ermöglich hatten. Daher überrascht es nicht, daß die Parlamentswahl vom 22. November erneut eine Wende brachte – diesmal allerdings nach links. Premier Jan Peter Balkenendes CDA bleibt mit 27 Prozent (41 von 150 Mandaten) zwar weiter stärkste Partei, doch mit drei Mandaten weniger (-1,6 Prozent) mußte auch sie Verluste wegstecken. Die favorisierten Sozialdemokraten (PvdA) des smarten Wouter Bos ernteten zwar von der Wirtschaftspresse Lob für ihre Ankündigung, die Renten künftig zu besteuern – die Wähler bestraften hingegen den neuen Kurs: Die Partei der Arbeit stürzte von 27,3 auf 21,5 Prozent ab (33 Sitze/-9). Ein Großteil der über eine halbe Million Wähler, die Bos den Rücken kehrten, ist wohl zu dem vom Postkommunisten zum Linkspopulisten gewandelten Jan Marijnissen übergelaufen. Seine Sozialistische Partei (SP) gewann über eine Million Stimmen hinzu und konnte so ihr Wahlergebnis fast verdreifachen: Mit 16,9 Prozent (+10,6 Prozent) und 25 Sitzen (+16) verdrängte die SP, die nicht nur gegen Sozialabbau, sondern auch gegen die Nato-Auslandseinsätze agitierte, die VVD vom dritten Platz. Mit nur noch 14,9 Prozent (-3) und 22 Mandaten (-6) wurden die Rechtsliberalen wohl auch dafür bestraft, daß sie im Mai statt der populären „eisernen Rita“ den blassen Bildungsstaatssekretär Mark Rutte zum VVD-Chef kürten. Ein Teil der enttäuschen VVD-Wähler lief daher zum zweiten Gewinner der Wahl über: Die neue rechtsnational-wirtschaftsliberale Freiheitspartei (PvdV) des Ex-VVD-Abgeordneten Geert Wilders (JF 14/05) erreichte aus dem Stand mit knapp sechs Prozent neun Mandate. Trotz heftigsten medialen Gegenwindes konnte sich der 43jährige Einwanderungskritiker mit seiner Warnung vor einem „moslemischen Tsunami“ als Fortuyn-Nachfolger etablieren. Im Juni 2005 gehörte Wilders übrigens zusammen mit SP-Chef Marijnissen zu den aktivsten Gegnern der EU-Verfassung, die dann in einer Volksabstimmung auch klar abgelehnt wurde. Wertkonservative Christen erzielen Achtungserfolg Ebenfalls abgestraft wurden die linken Grünen, die sich vor der Wahl schon als Teil einer rot-grünen Koalition sahen. Nur 4,6 Prozent (7 Sitze) entschieden sich für ihren Multikulti-Kurs. Ein Teil der Öko-Wähler stimmte diesmal lieber für die attraktive Direktorin der niederländischen Stiftung „Munteres Tier“, Marianne Thieme. Die 34jährige Vorsitzende der Partei für die Tiere (PvdD/1,9 Prozent) und ihre Kollegin Esther Ouwehand schafften damit den Sprung ins Parlament. Dritter Wahlsieger ist aber die bislang von vielen belächelte wertkonservative Christenunion (CU) von André Rouvoet, die nach der Mitgliederzahl sogar die viertgrößte Partei in den Niederlanden ist. Sie könnte mit vier Prozent (6 Mandaten) zum Zünglein an der Waage werden, da weder eine rechte oder linke Dreier-Koalition noch eine „Große“ Zweierkoalition aus CDA und PvdA eine Mehrheit hätte. Im Gegensatz zur extrem konservativ-evangelikalen SGP (1,6 Prozent/2 Sitze) wäre die weltlichere CU durchaus koalitionsfähig. Mit ihrer Ablehnung von Abtreibung, Euthanasie oder Homoehe spricht die calvinistische Partei auch vielen katholischen CDA-Mitgliedern aus dem Herzen. In sozialen Fragen vertritt die CU hingegen sozialdemokratische Positionen. Eine Koalition aus CDA, PvdA und CU ist daher nicht völlig ausgeschlossen. Denkbar wäre auch eine Mitte-Rechts-Viererkoalition aus CDA, VVD, PvdV und CU, denn im Europaparlament ist die CU Mitglied der EU-kritischen Fraktion Unabhängigkeit/Demokratie (ID). Selbst die linksliberale D’66, die im Frühjahr die Regierung wegen Verdonk zu Fall brachte und so die Neuwahlen provozierte, ist trotz des Verlustes von über der Hälfte ihrer Wähler noch nicht aus dem Rennen: Ihre zwei Prozent und drei Mandate könnten CDA und PvdA die nötige Mehrheit von 76 Sitzen verschaffen.
- Deutschland