Der 8. Mai hat alles bisher Dagewesene in der Hauptstadt in den Schatten gestellt. Schon morgens um halb neun ist der Alexanderplatz Aufmarschgebiet eines Großteils der 7.000 Polizisten und Bundesgrenzschutz-Beamten. Zwanzig, fünfzig, hundert Einsatzfahrzeuge – es sind unzählige. Jede Nebenstraße, in die hereinlugt, wer Unter den Linden Richtung Brandenburger Tor fährt, beherbergt weitere grüne Lkw. Nicht nur Personentransporter – auch gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer sind dabei. Berlins Mitte wirkt an diesem Morgen nicht wie eine Stadt, die sich auf die Feier des Kriegsendes vorbereitet. Der Platz rund um das Brandenburger Tor füllt sich langsam. Hier feiert das offizielle Berlin den „Tag der Demokratie“, der am Vortag von Klaus Wowereit eröffnet worden ist. Es sind die üblichen Freßbuden, die immer bei offiziellen Feierlichkeiten in der Straße des 17. Juni aufgebaut werden. Drumherum präsentieren sich Vereine und Verbände: Gesicht zeigen, Heinrich-Böll- (Grüne) und Rosa-Luxemburg-Stiftung (PDS), taz und Neues Deutschland, vor allem aber der DGB und seine Untergliederungen. Das Publikum ist dasselbe, das sich immer am Brandenburger Tor einfindet, überwiegend Partygänger und Touristen. Nur eine Minderheit ist hier anwesend, weil sie sich befreit fühlt. Total verloren zwischen diesem Sammelsurium linker Vorfeldorganisationen sind auch die liberale Friedrich-Naumann-Stiftung und ausgerechnet die Hanns-Seidel-Stiftung (CSU) sowie das Erzbistum Berlin mit Ständen vertreten. Inhaltlich passen sie hierhin wie Pinguine nach Afrika. Deswegen gibt es bei den Liberalen auch nur Luftballons. Auf einer Großleinwand wird über ein mögliches Verbot der NPD gesprochen. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) sagt sinngemäß, wichtig sei es, gegen Kriminelle Gesetze hart anzuwenden. Und meistens seien das ja Kriminelle. Was Wowereit in anderem Zusammenhang als Kriminalisierung geißeln würde, betreibt er jetzt selbst. Unter den Linden ist bereits alles abgeschirmt. Hubschrauber kreisen über dem Alexanderplatz. Hier hat sich die NPD versammelt – um gegen „Besatzungskollaborateure“ und „Berufsjuden“ zu demonstrieren, wie es in ihrem Aufruf im Internet heißt. „Weg mit dem Schuldkult“, lautet das Motto der NPD-Demonstration. Ab elf Uhr versammeln sich direkt unter dem Fernsehturm Teilnehmer aus ganz Europa. Bis zum frühen Nachmittag ist ihre Zahl auf 2.000 Personen angewachsen, darunter überraschend viele junge Frauen. Das Wetter ist wechselhaft. Als einmal ein Regenguß einsetzt, sagt einer der Redner: „Ob Regen oder Sonnenschein – wir lassen Deutschland nicht allein.“ Es bleibt einer der wenigen erheiternden Sätze während der NPD-Protestversammlung. Die Organisation der Polizei ist perfekt. Die NPD-Gruppe ist hermetisch abgeriegelt. Um die paar NPD-Anhänger sind drei abschirmende „Ringe“ gelegt worden. Bereits die vorderen Reihen selektieren nach optischen Kriterien. Der letzte Cordon besteht aus zwei Reihen Polizisten in Kampfuniform, die nur noch als NPD-Anhänger zu identifizierende Personen durchlassen. Die Polizeifahrzeuge sind so geparkt, daß sie eine Barriere bilden. So können die rivalisierenden Gruppierungen erfolgreich separiert werden. Was die Polizei straff durchdacht hat, läuft auf seiten der Antifa desorientiert. Angeblich gab es bis zu sechzig angemeldete Gegendemonstrationen. Ziellos ziehen gewaltbereite Jugendliche durch Berlin-Mitte an dem Polizeicordon entlang. Krawall unterbleibt bis auf ein paar Zwischenfälle. Um 14 Uhr – nach dem Gottesdienst in der katholischen St. Hedwigs-Kathedrale – versammeln sich die Spitzen des Staates in der Neuen Wache. In der Gedenkstätte werden Kränze niedergelegt. Auf einer Bühne beim „Tag der Demokratie“-Fest am Brandenburger Tor erklären die Popmusikerin Jeannette Biedermann und der Hitler-Darsteller Bruno Ganz unterdessen, warum sie sich seit dem 8. Mai 1945 befreit fühlen. Nach der Kranzniederlegung begeben sich die Spitzenpolitiker in den Reichstag. Dort spricht um 15 Uhr Wolfgang Thierse. Ihm folgt Bundespräsident Horst Köhler. Fernsehzuschauer können ihm kaum entgehen. N24, NTV, ARD, ZDF, Phoenix und 3Sat übertragen die Rede live. Seine Rede ist sehr widersprüchlich. Das Wort Befreiung erspart er sich. Dann sagt Köhler über die Teilung: „Von nun an machten die Menschen unterschiedliche Erfahrungen.“ Die Menschen im gesamten sowjetischen Machtbereich hätten um ihre Freiheit kämpfen müssen. Immer und immer wieder. Bis sie sie Jahrzehnte später erhalten hätten. Insofern widerspricht er hier der Befreiungsthese. Gegendemonstranten blockieren die Strecke Köhler spricht auch über deutsche Opfer – und zwar länger als erwartet. Grund genug für Michel Friedman, gleich im Anschluß auf N24 zu mäkeln: „Ich bin enttäuscht. Der Bundespräsident hat eine Chance verpaßt.“ Eine Chance verpaßt hat inzwischen auch die NPD. Nämlich die zu einem Demonstrationszug. Die Partei mußte den Protestzug stoppen. Die Polizei hatte die Partei dazu aufgefordert, weil mittlerweile 3.000 „wilde“ Gegendemonstranten die Strecke zur Friedrichstraße blockierten. Das Demonstrationsrecht wurde nicht durchgesetzt. Statt dessen wurden die NPD-Anhänger über den S-Bahnhof Alexanderplatz „evakuiert“. Vor dem Bahnhof hatten sich inzwischen etliche durchgesickerte Linksextremisten versammelt, die „Deutsche Polizisten schützen die Faschisten“ skandierten. Die Polizei hatte alle Ausgänge des Bahnhofs abgeriegelt. Die „Rechten“ sind abgezogen, die Linken fühlen sich als Gewinner. Deutschland versammelt sich vor dem Fernseher, um sich von Sabine Christiansen noch einmal abschließend erklären zu lassen, warum wir 1945 befreit worden sind. Nur Gerhard Schröder nicht. Er landet gerade in Moskau – um weiterzufeiern.