Die Abfolge der Ereignisse wirkte wie bestellt. Am Morgen des 12. Dezember wurde in Beirut der syrienkritische Verleger und Abgeordnete Gibran Tueni durch eine Autobombe getötet. Nicht nur, daß "man" sofort wieder Syrien hinter dem Anschlag vermutete, in einem Bekenneranruf brüstete sich eine "Gruppe für die Einheit von Großsyrien", die bis dahin unbekannt war, mit der Tat. Wenige Stunden später stellte der Uno-Sonderermittler Detlev Mehlis in New York seinen Bericht zum Mord an Libanons Ex-Premier Rafik Hariri vor.
Der nicht unumstrittene deutsche Staatsanwalt warf Damaskus vor, die Aufklärung zu behindern. Er zeigte sich in der Auffassung bestärkt, daß "die Geheimdienste" Syriens und des Libanons in das Attentat auf Hariri "verwickelt" gewesen seien. Doch das Mehlis-Papier, so seriöse Kritiker, biete "lediglich gewisse Indizien, aber keine Beweise". Die Argumentation sei so spekulativ, daß sie vor "Gericht vermutlich nicht bestehen könnte", und sie stütze sich auf fragwürdige Zeugen.
Hariri organisierte den Wiederaufbau des Libanons
Aber die Dinge im Nahen Osten werden im Westen oft anders gesehen als dort und oft so, wie man sie sehen will. Man braucht nicht nur an die "Massenvernichtungswaffen" des Irak zu denken. Auch Attentate und gezielte Liquidierungen sind seit je gang und gäbe. Im Fall Hariris liegen die Dinge anders – war er doch von Washington umworben, mit dem saudischen Königshaus befreundet und auch in Frankreich willkommen. Syrien steht deswegen unter enormem Erklärungsdruck.
Der sunnitische Geschäftsmann Hariri war zum Multimilliardär geworden, ehe er sich der Politik zuwandte. Als langjähriger Ministerpräsident des Libanon steht sein Name für den Wiederaufbau des durch den Bürgerkrieg von 1970 bis 1985 und durch verheerende Luftangriffe Israels zerstörten Landes.
Die Syrer wurden damals von Beirut als Ordnungsfaktor ins Land gerufen – und sie kamen gern. Denn in Damaskus ist die Vorstellung tief verwurzelt, Syrien und der Libanon gehörten irgendwie zusammen. Doch je mehr sich der Zedernstaat erholte, desto stärker wurde die Präsenz syrischer Truppen als unangebracht empfunden. In Beirut sortierten sich die politischen Kräfte in ein pro- und ein antisyrisches Lager.
Zwei Ereignisse führten zu einer Erosion der syrisch-libanesischen Beziehungen. Faktor Nummer eins ist der junge Präsident Baschar Assad in Damaskus. Als der Augenarzt vor fünf Jahren aus London zurückgerufen wurde, um das Erbe seines Vaters anzutreten, war er in keiner Weise darauf vorbereitet. Nach der langen Zeit im westlichen Ausland mußte ihm klar sein, daß das Herrschaftsgefüge seines Vaters und der regierenden Sozialistischen Partei der nationalen arabischen Wiedergeburt verkrustet und veraltet war und daß Syrien eine Modernisierung von Wirtschaft und Politik dringend nötig hatte. In dieser Hinsicht ist seither einiges geschehen.
Das Regime in Damaskus stützt sich aber auf die Minderheit der Alawiten, das Relikt einer tausendjährigen schiitischen und durchaus weltlichen Splittergruppe. Als Vater Hafis, Alawit und Luftwaffenoffizier, 1970 durch einen Putsch an die Macht kam, konnte er sich auf eine treue Gefolgschaft verlassen, mit der er dem Land für drei Jahrzehnte Stabilität sicherte – ungewöhnlich für Syrien, hatte es doch zuvor in 20 Jahren 24 neue Regierungen gegeben. Ein skrupellos zum Machterhalt eingesetzter Polizeiapparat unterdrückte oppositionelle Aktivitäten nachhaltig.
Seit der Amtsübernahme im Jahr 2000 hat es der nun 40jährige Baschar Assad schwer, den Spagat zwischen Modernisierungszwang, außenpolitischem Druck und Machterhalt so geschickt zu bewältigen wie sein Vater. Das liegt auch an der geringen Neigung der alten Nomenklatura, sich dem jungen "Rais" zu beugen – und an dem Druck von außen, dem Syrien ausgesetzt ist.
Er ist der zweite Faktor, der in der gegenwärtigen Krise eine Rolle spielt. Für US-Politiker war Syrien wegen seiner antiisraelischen Politik seit jeher ein Störenfried. Daß sich Assad 2003 den Wünschen George W. Bushs zur Unterstützung des Irak-Kriegs verweigerte (im Gegensatz zum Irak-Krieg 1991), katapultierte Syrien auf der Liste der "Schurkenstaaten" ganz nach oben.
Sofort nach der Niederwerfung Saddam Husseins sprach die US-Regierung Klartext. Am 2. Mai 2003 konfrontierte US-Außenminister Colin Powell Damaskus mit dem Ansinnen, sich der "neuen strategischen Lage" zu beugen. Gemäß der anvisierten Regionalordnung eines New Greater Middle East, eines wesentlichen Bausteins im hegemonialen Konzept der USA, wurde auch von Syrien "Kooperation" verlangt.
Was das für Syriens Verhältnis zum Libanon bedeutete, machte Powell tags darauf in Beirut klar. Er sprach mit Präsident Émile Lahoud und Premier Hariri und erklärte, er blicke "einem prosperierenden und freien, einem von fremden Truppen freien Libanon" entgegen. Die syrische Regierung versprach zu kooperieren, die Palästinenser-Büros in Damaskus zu schließen, flüchtigen Saddam-Anhängern kein Asyl zu gewähren und nicht auf die Nachkriegsordnung des Irak Einfluß zu nehmen.
Dem alten Machtapparat gingen solche Verbeugungen vor den USA zu weit, Assad mußte vorsichtig zurückrudern. Gleich darauf hörte man zum ersten Mal, Syrien könnte nach dem Irak der nächste Staat des Nahen Ostens sein, dem ein Regimewechsel zu bescheren sei.
Spekulationen über syrische oder andere Täterschaft
Die ersten Schritte ließen nicht lange auf sich warten: Die USA beendeten den Export irakischen Öls durch Syriens Pipelines und halbierten dadurch Syriens Wirtschaftswachstum, verhängten Sanktionen, hintertrieben Handelsvereinbarungen mit den Europäern. Die Überlegungen, Syrien zu bombardieren und Finanztransaktionen über die syrische Zentralbank zu blockieren, schreckten Investoren ab und vertrieben einige. Präsident Bush hat mit dem 2003 in Kraft getretenen Syria Accountability Act die Ermächtigung des Kongresses für solche Maßnahmen (und faktisch auch eine Kriegsermächtigung) in der Hand.
Daher stellt sich die Frage nach dem Cui bono? des Hariri- und des Tueni-Mords. Wer könnte daran interessiert sein, die syrischen Truppen und den syrischen Einfluß im Libanon loszuwerden und den für neue Bürgerkriege anfälligen Libanon zu destabilisieren? Der US-Analytiker Joshua Landis, Gastprofessor in Damaskus, meint: "Niemand hat eine Erklärung dafür, warum dieser Mord (an Tueni) gerade jetzt begangen worden ist – es sei denn, es handle sich bei dem Täter oder Taturheber um einen Feind Syriens. Warum in aller Welt sollte das Regime in Damaskus Tueni ausgerechnet zum Auftakt jener Sitzung des Sicherheitsrats umbringen, in der vielleicht über Wirtschaftssanktionen gegen Syrien entschieden wird?"
Wer also sonst außer Syrien kann an solchen Verbrechen interessiert sein? Syrische Geheimdienstler, denen ihr Präsident zu lasch ist und die ihn zu einer radikaleren Politik zwingen wollen? Abenteuerliche Spekulationen schießen ins Kraut. Inzwischen wird auch an einer Verdächtigenliste mit dem Titel "Andere Verdächtige als Syrien" gearbeitet – in der arabischen, muslimischen und mittelasiatischen Presse.
Die USA selbst und die CIA werden genannt. Und schließlich sei da noch ein anderer Staat, der unmittelbar und stärker als die USA vom Hariri-Mord und seinen Folgen profitieren könnte, der keine Gelegenheit auslasse, gegen Syrien zu hetzen und der trotz zweier UN-Resolutionen immer noch ein Stück syrischen Gebietes besetzt halte.
Doch in Israel ist man gespalten zwischen der Schadenfreude, daß es den Erzfeind Syrien gehörig beutelt, und der Sorge vor der Destabilisierung eines bis dahin stabilen und meist auch berechenbaren Nachbarn. "Wenn das Regime in Damaskus unter dem Druck von außen und inneren Querelen zusammenbricht", analysiert Israels führender Syrien-Experte Eyal Zisser vom Mittelost-Institut der Uni Tel Aviv, "dann wird es wahrscheinlich wie im Irak werden, Terrorismus und der Zusammenbruch des Staates".
Und im Libanon? Dort registriert man die ersten Fragmentierungen des mühsam errungenen Konsenses. Schon haben die ersten schiitischen und selbst ein christlicher Minister der erst vor ein paar Monaten ins Amt gekommenen Regierung Siniora ihre Mitarbeit ausgesetzt – aus Protest gegen die "Aushöhlung der libanesischen Souveränität". Die Auslagerung juristischer Untersuchungen aus dem Libanon ist für sie ein "Rückfall in die Zeit, in der Libanon ein Mandatsgebiet Frankreichs war".
Mit dem Abzug der Syrer ist der antisyrischen Opposition, die jetzt in Beirut den Ton angibt, auch ihr gemeinsames Ziel abhanden gekommen. Schon warnen die ersten Kassandras vor Ort, der den Libanon so lange lähmende Dissens zwischen maronitischen, orthodoxen und sonstigen Christen, zwischen Drusen, Schiiten, Sunniten, Alawiten, Palästinensern und den anderen mehr als vierzig ethnischen und religiösen Gruppen könnte wieder ausbrechen.
Foto: Trümmer des Tueni-Anschlags: Syrische Schuld nicht erwiesen