D ie sich am Holocaust beteiligten, haben ihre letzte friedliche Nacht verbracht“, erklärte Arieh Rubin am 13. Juli in Budapest. Denn gemeinsam mit dem 1977 in Los Angeles von Rabbi Marvin Hier gegründeten Simon-Wiesenthal-Center (SWC) und der Targum Shlishi Foundation (Miami) wurde nun auch in Ungarn die Aktion „Letzte Chance“ gestartet. Ziel der SWC-Initiative ist es, die letzten noch lebenden Kriegsverbrecher oder Holocaust-Täter (im englischen Original „Nazi war criminals“ genannt) vor Gericht zu bringen. Viele sähen – 60 Jahre später – keinen Sinn in der Aktion, bemängelte Rubin. Die entscheidende Frage laute aber nicht „Warum erst jetzt?“, sondern vielmehr müßten sich die Magyaren fragen, warum bisher „nichts getan wurde, um die Nazis vor Gericht zu stellen“. Ein eher praktisches Argument kam vom für Europa zuständigen Leiter des SWC in Jerusalem, Efraim Zuroff: In der kommunistischen Ära habe man schlicht keinen Zugang zu den Archiven gehabt. Das habe eine wirksame Verfolgung erschwert. Über eine Gratis-Telefonnummer können die Ungarn ab sofort ihre Informationen anbieten. Für einen Hinweis, der zur Aufdeckung und Verurteilung eines Holocaust-Täters führt, wurde eine Vergütung von 10.000 US-Dollar ausgelobt. Dabei ist für die „Letzte Chance“ nicht von Belang, ob der Verdächtigte schon einmal von einem ungarischen Gericht verurteilt worden ist. Begründet wird diese Irrelevanz mit den oft falschen Urteilen der ungarisch-kommunistischen „Volksgerichte“ nach 1945. In dem Zeitraum zwischen der „Befreiung“ durch die Rote Armee 1945 und 1950 wurden gegen 60.000 Ungarn Verfahren eingeleitet. 27.000 Bürger wurden drastisch bestraft, davon 189 mit dem Tod. Als prominentes Beispiel für eine verfehlte Gerichtsbarkeit gilt der „Fall Bárdossy“. Der seinerzeitige ungarische Ministerpräsident László von Bárdossy wurde nach 1945 hingerichtet, weil er nach Meinung der Kommunisten der Sowjetunion den Krieg erklärt hatte. Doch das stimmt nachweislich nicht. Bárdossy konstatierte lediglich, daß zwischen Ungarn und der Sowjetunion seit 1941 der Kriegszustand eingetreten sei. Zu dieser Feststellung war er berechtigt. Während seines Schauprozesses fiel den Anklägern und Richtern hingegen nicht auf, daß man den Angeklagten eigentlich nur für das sogenannte „Dritte Judengesetz“ hätte verurteilen können. Denn dieses gegen die Menschenrechte verstoßende Gesetz wurde von seiner Regierung erarbeitet und verabschiedet. Daher müßte man heute eigentlich ein völlig neues Verfahren gegen Bárdossy anstreben. Mit größter Wahrscheinlichkeit müßte man ihn zunächst rehabilitieren, um ihn dann unter anderen, oben genannten Aspekten erneut anzuklagen – und zu verurteilen. Der Historiker Iván Beer, Direktor der Ungarischen Holocaust-Gedenkstiftung und Koordinator der „Letzen Chance“, räumte zwar ein, daß für Antisemiten so oder so der Judenhaß ihre Religion bleibe. Gleichwohl, so Beer, hätten die Juden ein gutes Gedächtnis: Seit mehr als 3.500 Jahren merkten sie sich jedes Volk, welches ihnen etwas antun wolle. Eine ähnliche Kampagne war 2002 bereits im Baltikum gestartet worden. In Litauen gingen kanpp 200, in Lettland über 40 und in Estland fast 700 Anzeigen ein. 2003 wurden dann Rumänien, Österreich und Polen in die Suchaktion einbezogen, im Juli Ungarn und Kroatien, im August ist Argentinien und im September Deutschland an der Reihe. Den Schwerpunkt in Ungarn begründet Zuroff damit, daß es eines jener Länder gewesen sei, in dem „auch Einheimische an der Ermordung von Juden teilgenommen“ hätten. Die Aktion ist jedoch auch bei profilierten Mitarbeitern der „Holocaust-Industrie“ (Norman G. Finkelstein) umstritten. So bezeichnet Lászlo Karsai, ein bekannter Forscher des ungarischen Holocaust, die Nazi-Jagd-Aktion des Wiesenthal-Zentrums als „totales Fiasko“. Es werde „viel Geld ausgegeben – auf völlig überflüssige und kontraproduktive Weise“, so Karsai. Zugleich würde „der Antisemitismus erstarken“, und es werde „kein einziger Kriegsverbrecher gefaßt“. Selbst der Namensgeber des SWC, der 95jährige in Wien lebende weltbekannte „Nazi-Jäger“ Simon Wiesenthal, hält die Aktion für überflüssig: Er habe sein Ziel erreicht. Auch ein anderer prominenter Forscher, Krisztián Ungváry, hält wenig von der „Letzten Chance“. Ungváry, der bei der Aufdeckung von Fälschungen bei der ersten „Wehrmachtsausstellung“ eine führende Rolle gespielt hat (JF 44-49/99), bezeichnet die ganze Aktion als „katastrophalen Fehler“. Völlig problemlos entwickelte sich die „Nazi-Jagd“ in Ungarn allerdings nicht. Der Beauftragte für Datenschutz, Attila Péterfalvi, meldete Bedenken an. Man könne nicht im Rahmen einer privaten Initiative Angaben über ungarische Staatsbürger sammeln und diese dann ins Ausland verschicken, bemängelte er. Dies sei nur dann möglich, wenn die betroffene Person damit einverstanden sei oder wenn es darüber ein bilaterales Abkommen gäbe. Beer widersprach dieser Ansicht. Für ihn sind die Daten, die er nach eigenen Angaben umgehend nach Israel weiterleitet, „zivile Informationen“. Der Streit, der schrille Zwischentöne nicht entbehrte, führte letztlich dazu, daß am 26. Juli die Aktion „Letzte Chance“ unerwartet ihre Arbeit vorübergehend einstellte. Offiziell werden seitdem keine weiteren Fälle mehr verfolgt. Bis dahin hatten nur vier oder fünf Personen Angaben über vermeintliche „Nationalsozialisten“ übermittelt. In einem publik gewordenen Fall meldete eine ältere Frau aus einem westungarischen Dorf, wie 1944 zwei Pfeilkreuzler – so nannten sich die ungarischen Nationalsozialisten – drei jüdische Zwangsarbeiter liquidiert haben. Nach Angaben der Frau lebe einer der Täter noch. In diesem Fall wurden die „zivilen“ Ermittlungen von den „Wiesenthalern“ allerdings nicht aufgenommen, da die Informantin keine stichhaltigen Beweise vorlegen konnte. Die drei Juden hingegen, die noch immer in einem Garten des Dorfes vergraben sind, sollen exhumiert und würdig bestattet werden. Inzwischen ist die „Letzte Chance“ zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft geworden. Denn nachdem Beer öffentlich erklärt hatte, daß er Daten nach Israel weitergeleitet habe, wurde am 29. Juli gegen ihn Anzeige erstattet. Der stellvertretende Vorsitzende der rechtsnationalen „Bewegung für ein besseres Ungarn“ (Jobbik), Gábor Vóna, begründete den Schritt seiner Partei mit der angeblich nachweislich illegalen Tätigkeit des SWC in Budapest. Außerdem forderte Vóna den ungarischen Justizminister Péter Bárándy auf, Datenschützer Péterfalvi gegen ungerechte Angriffe in Schutz zu nehmen. Doch bisher gab es aus der Politik keine vernehmbaren Signale. Man wartet ab. Foto: Rabbi Marvin Hier: 10.000 US-Dollar für angezeigte Holocaust-Täter