Zum ersten Mal seit der Bundestagswahl 2002 werden Union und FDP am Sonntag versuchen, nach einem sehr wichtigen Staatsamt zu greifen. Und bei der Wahl zum Bundespräsidenten haben die Bürgerlichen in Deutschland sehr gute Chancen, ihren Kandidaten Horst Köhler zum Nachfolger von Johannes Rau zu machen. Die wahrscheinliche Wahl von Köhler ist ein Signal für einen Richtungswechsel in der Berliner Politik bei den Bundestagswahlen 2006. Köhler selbst begann mit Vorstellungsrunden, die politischen Freunden zunächst Kopfzerbrechen bereitet hatten; in den letzten Wochen festigte er sich jedoch zu einem Bewerber, der seine konservativen Positionen nicht verschweigt. Vielleicht wollen einige die eigene Führung ärgern Von den 1.205 Delegierten der Bundesversammlung (602 Bundestagsabgeordnete und 603 von den Landtagen gewählte Mitglieder) gehören 539 zur Union und 83 zur FDP. Damit haben beide bürgerlichen Kräfte zusammen eine knappe Mehrheit von 51,6 Prozent in dem Gremium. Für Köhlers Gegenkandidatin, die Hochschullehrerin Gesine Schwan, dürften die 459 SPD-Delegierten, die 90 Grünen und vielleicht noch die 31 PDS-Vertreter stimmen. Außerdem gehören der Bundesversammlung ein Mitglied der DVU (aus dem Brandenburger Landtag) sowie ein Vertreter des dänischen Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) an. Es mag sein, daß einige Vertreter der Union und der FDP die eigene Führung ärgern wollen und im ersten oder zweiten Wahlgang nicht für Köhler stimmen. In den ersten beiden Wahlgängen muß der Präsident mit der absoluten Mehrheit der Stimmen gewählt werden. Aber alle Prognosen gehen davon aus, daß Köhler spätestens im dritten Wahlgang die Mehrheit bekommen wird. Schwan ist und bleibt eine Zählkandidatin, die allerdings bei der nach den Europawahlen erwarteten Kabinettsumbildung in Berlin ministerielle Ehren (zum Beispiel im Bereich Bildung) bekommen könnte. Köhler war ein Überraschungskandidat. „Horst wer?“ fragte vor knapp drei Monaten die Bild-Zeitung nach einem nächtlichen Auswahlkrimi mit den Hauptdarstellern Angela Merkel, Edmund Stoiber und Guido Westerwelle. Brutal wie nur Politiker sein können, hatten sie zuvor den früheren CDU-Chef Wolfgang Schäuble fallengelassen, nachdem klar war, daß die FDP Schäuble nicht wählen wollte und Teile der Union übrigens auch nicht. Es war Stoiber, der schließlich durchsetzte, keinen Politiker mehr aufzustellen, sondern einen Kandidaten aus der Wirtschaft zu nehmen. Der Lebensweg des 61jährigen Vaters von zwei Kindern ist ein typisches Schicksal des Zweiten Weltkriegs: In Bessarabien geboren, nach Polen umgesiedelt, nach dem Krieg in die sowjetische Besatzungszone vertrieben und von dort nach Westdeutschland geflüchtet. Köhler betrat die politische Bühne 1990, als er Staatssekretär in Theo Waigels Finanzministerium wurde. Von dort kannten ihn Merkel und Stoiber. 1992 verließ er die Politik bereits wieder und wurde die letzten Jahre, während seines Wirkens als Präsident des Internationalen Währungsfonds, in Berlin nicht mehr gesehen. Seine ersten Äußerungen trafen die eigenen Leute wie einen Schlag. Köhler fand die Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder gut. Er empfahl Angela Merkel als Kanzlerkandidatin, was ihm den Zorn der CSU eintrug und einer der Gründe sein könnte, wenn es drei Wahlgänge bis zu Köhlers Wahl braucht. Außerdem kritisierte er, daß „den Amerikanern die Macht zu Kopfe gestiegen“ sei, und warf den USA arrogantes Verhalten vor. Das war wieder ein Schlag gegen Merkel, die sich nicht so pointiert gegen die Weltmacht äußern möchte. Als noch eine Geburtstagsrede für seinen früheren Chef Waigel verunglückte und mancher Teilnehmer glaubte, einen Nachruf auf Waigel zu hören, bezeichneten Spötter in Berlin Köhler schon als Mischung aus Lübke und Steffen Heitmann – jenem Kurzzeit-Kandidaten von Helmut Kohl vor zehn Jahren, dessen verunglückte Äußerungen über die Rolle von Frauen ihn schnell in der Versenkung verschwinden ließen. Köhlers Äußerungen lassen aufhorchen Es gibt aber Äußerungen von Köhler, die aufhorchen lassen, weil sich kein Bundespräsident seit Karl Carstens mehr so nachdrücklich konservativ geoutet hat. Sein Programm ließ Köhler in der FAZ in Form eines Interviews veröffentlichen. Es sind weniger die Anfangssätze, wie das Verlangen nach einer zweiten „Ruck-Rede“, nachdem die erste Rede dieser Art vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zu schnell in Vergessenheit geriet. Wichtiger erscheinen andere Sätze: „Es ist leider immer noch so, daß Kinderkriegen ökonomisch bestraft wird, über die Rentenversicherung und das Steuersystem. Die Familie als Ort der Sozialisation und der Vermittlung von Grundwerten ist vernachlässigt worden – möglicherweise auch als Spätfolge der Achtundsechziger-Generation.“ Vorwürfe, er sei ein kaltherziger Wirtschaftsreformer, weist Köhler zurück. „Es gibt keine gute Ökonomie, jedenfalls keine langfristig gute Ökonomie, ohne Werte, ohne Moral.“ Der Protestant Köhler bekennt sich zum Christentum als Wertebasis und ist auch für einen Bezug auf Gott in der EU-Verfassung. Menschenwürde und Schutz des Lebens haben für ihn Vorrang vor der Freiheit der Forschung zum Beispiel in der Gentechnik. Die Abtreibungsgesetzgebung hält Köhler für überarbeitungsbedürftig, womit nicht eine weitere Liberalisierung gemeint ist. Und nicht zuletzt scheiden sich die Geister bei Köhler und Schwan am Zentrum gegen Vertreibungen: Schwan will es nicht, Köhler ist dafür. Mit diesem Präsidenten, wenn er denn seinem Programm treu bleiben sollte, könnte Deutschland in die Grundsatzdebatte getrieben werden, die das Land längst hätte führen müssen. Rezepte wie Fleiß, Pflichtbewußtsein und Verantwortung konkurrieren gegen alles, was sich unter der Rubrik „Schröders Beliebigkeit“ subsumieren läßt. Wenn Köhler diese Debatte durchhält, würde er das vollenden, was Kohl einst als „geistig-moralische Wende“ ankündigte, aber nie betrieb. Schafft Köhler es nicht, dürfte er schnell mit dem späten Lübke verglichen und zur Spottfigur werden. Foto: Horst Köhler: Schafft er es nicht, sich zu positionieren, könnte er schnell ein zweiter Lübke werden