Die Europäische Union erweitert sich. Mit ihr wachsen nicht allein der Berg ökonomischer Probleme, die Zahl der ungedeckten Schecks und voraussehbaren Bankrotte, die Vielzahl ungelöster politischer Fragen – von der Bestimmung der Rolle EU-Europas in der Welt bis zur Binnenstruktur dieses ominösen Gebildes, das teils als quasisowjetischer Zentralstaat, teils als Zweckbündnis brutal egoistischer Duodezstaaten konzipiert wird. Was auch wächst, unterirdisch und außerhalb des engen Gesichtskreises der Machthaber, das sind die Lasten einer wenig glorreichen Vergangenheit, die niemals ganz vorbei sein wird und aktueller denn je ist. Ja, es gibt das Positive – deutsche und tschechische Schüler aus Schulen an der Grenze lernen beispielsweise an einem Tag in der Woche gemeinsam die Sprache des anderen Volkes und ein friedliches Miteinander. Es gibt mutige Einzelne hüben wie drüben. Aber oben, an den Spitzen von Staaten, die keine zwei Jahrzehnte nach der Wende so moralisch verkommen und politbürokratisch verknöchert sind wie ihre kommunistischen Vorgängersatrapien, tut man alles, um etwa in den Fußstapfen des gerade in Prag per Gesetz als Volksheros geehrten Massenmörders Edvard Benesch weiterzumarschieren. Hitler war unendlich verheerender als seine Taschenformat-Ausgabe Benesch, dem nur eine relativ kleine Nation als Objekt für Verhetzung und Mißbrauch zur Verfügung stand. Aber genauso wie Hitler ein Massenmörder bleibt, ohne daß er auch nur einen einzigen Menschen zwischen 1933 und 1945 eigenhändig umgebracht hat, so wird das Blut von Zehntausenden ermordeter Sudetendeutscher auf ewig mit dem Namen Benesch verbunden bleiben. So wie die Deutschen in einem langen, längst noch nicht abgeschlossenen Prozeß lernen mußten, sich der historischen Verantwortung für den Judenmord und der notwendigen, durch keinen fiktiven Schlußstrich und keine bequeme einseitige Pseudo-Versöhnung ersetzbaren Sühne zu stellen, so kann Polen, Tschechien und den anderen Vertreiberstaaten nicht erlassen werden, das durch Landraub, Vertreibungen, Morde, Vergewaltigungen, Unterdrückung der Minderheiten, Rückkehrverweigerung usw. geschaffene Unrecht bewußt und offen auszusprechen, um einen neuen und besseren Weg einzuschlagen – auf der Grundlage der Wahrheit, der Gleichberechtigung, der Verpflichtung durch eine gemeinsame Geschichte, des Willens zu einer gemeinsamen Zukunft. Rolf Stolz ist Mitbegründer der Grünen. Heute lebt er als Publizist in Köln.