Angesichts der hierzulande üblichen wochenlangen Hysterie um mißverstandene, mißrepräsentierte oder einfach nur mißratene Äußerungen öffentlicher Figuren ist man regelrecht erleichtert, wenn dergleichen als Lehrstücke verbrämte Possen einmal anderswo aufgeführt werden. In seiner Ausgabe vom 16. Oktober beklagte das britische Wochenmagazin The Spectator in einem unsignierten Leitartikel die „rührselige Sentimentalität einer Gesellschaft, die trauersüchtig geworden ist und im Opferkult schwelgt“. Als symptomatisch für diese Wehleidigkeit stellte der Autor, hinter dem britische Medien inzwischen den Journalisten Simon Heffer vermutet, die eine Woche zuvor für den im Irak enthaupteten britischen Zivilisten Ken Bigley ausgerufenen Schweigeminuten in dessen Heimatstadt Liverpool heraus. Dort herrsche sowieso eine „exzessive Mitnahmementalität“ und eine „zutiefst unattraktive Psyche“, wie sich schon 1989 erwiesen habe, als am 15. April beim teilweisen Einsturz des Sheffielder Hillsborough-Stadion 93 Menschen, darunter über fünfzig Liverpool-Fans ums Leben kamen. Die Stadt an der Mersey reagierte mit Empörung, die Redaktion wiederum mit Beschwichtigungen: „Der Spectator liebt Liverpool!“ So weit, so geschmäcklerisch – schließlich ist die 1828 gegründete Zeitschrift für Polemiken bekannt und brüstet sich mit ihrer „Lust auf Kontroverse“. Brisant wird die Geschichte erst, weil der Chefredakteur (seit 1999) Boris Johnson zugleich stellvertretender Vorsitzender der oppositionellen Konservativen, Kulturminister im Schattenkabinett und Parlamentsabgeordneter ist, so daß dem Spectator Leser- und den Tories Stimmeneinbußen drohten. Auf Weisung seines unmittelbaren Vorgesetzten, des Parteichefs Michael Howard, mußte Johnson daraufhin den Gang nach „Canossa“ antreten und vor Ort um Vergebung bitten: Zu Empire-Zeiten noch stolze Hafenstadt, hat Liverpool inzwischen selbst seinen Rang als Wiege der musikalischen Avantgarde an Manchester abtreten müssen, und auch der FC Liverpool, derzeit Tabellenachter in der „Barclays Premiership“-Liga, ist längst nicht mehr das, was er einmal war. Heutzutage macht die 440.000-Einwohner-Stadt nur noch durch hohe Arbeitslosenzahlen (fast 20 Prozent in manchen Bezirken) und Drogenkriminalität Schlagzeilen. Alexander Boris de Pfeffel Johnson wurde 1964 in New York geboren, wo sein Vater für die Vereinten Nationen tätig war, und wuchs in Brüssel auf. Mit seinem hellblonden Schopf und jungenhaften Charme ist der Kronprinz der Tories eine schillernde Figur im britischen Polit- und Medienzirkus. Politisch läßt sich der Neoliberale mit einiger Berechtigung als „britischer Friedrich Merz“ bezeichnen, menschlich tut man sich schwer, ihn unsympathisch zu finden – zumal er sich selber noch nie so bitterernst genommen hat, wie es nun die Liverpooler tun. So sagte er der linksliberalen Sonntagszeitung The Observer, er sei ein „langsam vor sich hin kauender Panda“, und veröffentlichte jüngst einen autobiographisch angehauchten humoristischen Roman. Wie faustdick der vermeintlich Zerknirschte es hinter den Ohren hat, zeigte seine Abbitte im Spectator (23. Oktober): „Johnson der Politiker entschuldigt sich und verweigert eine Entschuldigung für dieselben Dinge wie Johnson der Journalist“. Johnson der „Politschelm“ (Observer) aber legte noch einen drauf und warf Bigleys Familie vor, „Unsinn“ zu reden, wenn sie sagten, das Blut des Toten klebe an Labour-Premierminister Tony Blairs Händen.