In Frankreich wird die Debatte um die Verschleierung muslimischer Frauen bereits seit fünfzehn Jahren geführt. Dieses Thema löst bei den politischen Verantwortungsträgern Verwirrung und in der Bevölkerung Irritation aus. Hinter der Forderung nach religiöser Toleranz steckt in Wirklichkeit eine Strategie des „Austestens“, wie die jüngste Affäre um das Kopftuch zeigte. Aubersvilliers im Département Hauts-de-Seine am 24. September 2003: Fernsehkameras und Pressefotografen sind zur Stelle, als die Schwestern Lila und Alma Lévy in langen Tuniken, Rollkragenpullovern und Kopftüchern am Lycée Henri Wallon eintreffen, um ihre Suspendierungsbescheide abzuholen. Die Schulleitung hatte entschieden, die beiden Mädchen für zehn Tage vom Unterricht auszuschließen, weil sie sich weigerten, ihre Kopftücher so zu tragen, daß Haaransatz, Ohrläppchen und Nacken zu sehen waren. Die Bewegung gegen Rassismus und für Völkerfreundschaft (Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples, MRAP) nahm sich ihrer Sache an. Der Ausschluß der Schwestern wegen ihrer „auffälligen“ Kleidung und ihrer Teilnahme an einer Pro-Kopftuch-Demonstration vor der Schule zeuge von „Islamophobie“, hieß es. Der Tageszeitung Le Figaro zufolge ist ihr Vater, ein nichtpraktizierender Jude, als Anwalt für MRAP tätig. Die Mutter, eine algerische Muslimin, praktiziert ihren Glauben ebenfalls nicht. Reine Provokation also? Um die Verschleierung muslimischer Frauen wird in Frankreich schon seit fünfzehn Jahren gestritten. Die Wochenzeitschrift Le Figaro Magazine löste allgemeine Entrüstung aus, als sie eine verschleierte Marianne, das französische Nationalsymbol, auf ihrem Titelblatt abbildete. Damals allerdings beharrten die „Gutmenschen“ darauf, daß die Einwanderung „eine Chance für Frankreich“ darstelle. Ähnliches verlautete sogar aus den neogaullistischen Kreisen um den heutigen Staatspräsidenten Jacques Chirac. In der Folge des ersten Rechtsstreits um das Kopftuch an einer Oberschule in Creil im Département Oise sah sich der Staatsrat als oberste rechtliche Instanz gezwungen, ein Urteil zu fällen. Der Entscheid vom 27. November 1989 spricht den Benutzern öffentlicher Einrichtungen die Freiheit zu, religiöse Symbole (den islamischen Schleier, die jüdische Jarmulke, das katholische oder hugenottische Kreuz) zu tragen, während die Vertreter des Staates gehalten sind, strenge Neutralität zu wahren. Damit gestattete der Staatsrat muslimischen Schülerinnen, in staatlichen Schulen Kopftücher zu tragen, solange sie sich an drei Bedingungen hielten: Ihre Kleidung darf nicht „auffällig“ oder mit einer „missionarischen Absicht“ verbunden sein und keine „Störung der öffentlichen Ordnung“ bedeuten. Seit diesem Urteil taucht die Frage in regelmäßigen Abständen auf, vor allem seit der Schleier – einst reichen saudiarabischen Prinzessinnen vorbehalten, die zu Besuch in Paris weilten – in den französischen Großstädten immer mehr das Straßenbild bestimmt. Vor kurzem kam es zu einem Rechtsstreit um die Bestimmung, bei Beantragung eines Ausweises ein Foto mit unbedecktem Kopf einzureichen. Für die Medien war das ein gefundenes Fressen. An ihren Auslassungen fiel auf, daß die Philosophie des „republikanischen Laizismus“ dazu neigt, die Gebräuche des europäischen Christentums mit denen des Islams auf eine Stufe zu stellen. Die muslimischen Befürworter der Verschleierung schwangen dagegen ganz andere Reden. Gewiß forderten sie die „Freiheit“, den Schleier zu tragen, im Namen der Achtung ihres Glaubens, aber daß sie viel weiterreichende Absichten verfolgten, wurde schnell klar. Den einen zufolge verlangt die islamische Tradition, „daß die Frau beim Gebet zum Zeichen ihrer Ehrfurcht vor Gott den Kopf bedeckt“. Laut den anderen ist der Schleier als Zeichen der „Scham“ im Alltagsleben notwendig, um „den Blick des Mannes nicht auf sich zu lenken“. Diese Rechtfertigung, die sich speziell auf das Verhältnis der Frau zum Mann bezieht, trennt die Geschlechter voneinander und stellt damit die Gleichberechtigung in Frage. Zudem beinhaltet sie eine eindeutige Mißbilligung der freien Sitten, die im Westen herrschen. Die Feministinnen üben in dieser Frage ungewohnte Zurückhaltung, die zuständigen Behörden hat sie in völlige Verwirrung gestürzt. Wohl in Unwissenheit der Tatsache, daß jede Gemeinschaft auf einem geteilten Moralempfinden beruht, bemüht man sich, die Anerkennung des Islams zu signalisieren. Die Einrichtung des Conseil français du culte musulman, des Französischen Islamrates, in dem Vertreter radikaler Glaubensrichtungen wie zum Beispiel der Muslimbruderschaft sitzen, ist nur eins dieser Signale. Die Idee stammte noch von dem früheren Innenminister Jean-Pierre Chevènement, ihre Verwirklichung von seinem Nachfolger. Der derzeitige Amtsinhaber Nicolas Sarkozy nutzte die Gelegenheit, um bekanntzugeben, daß der Islam inzwischen zur zweiten Landesreligion geworden sei. Nun, da die französische Regierung sich von verschiedenen Seiten unter Druck gesetzt sieht, einzugreifen und die Verschleierung in gewissen Situationen gesetzlich zu verbieten, reagiert sie mit dem Verweis auf den „republikanischen Pakt“ – von dem jeder weiß, daß er reine Fiktion ist – und mit Ausfällen gegen „kommunitaristische Abwege“, die sie ihrer eigenen Politik zu verdanken hat. Wer den Vorwurf der Islamophobie erhebt, übersieht dabei, daß die Diskussion um das Kopftuch nur ein Symptom einer islamischen Offensive gegen den französischen Staat ist. Die Forderungen nach „Anerkennung“ und „Achtung“ werden immer lauter und immer mehr. Immer weniger Schulkantinen kochen mit Schweinefleisch. Vor allem in der Automobilindustrie machen viele Firmen Zugeständnisse an Arbeitnehmer, die den Fastenmonat Ramadan begehen möchten. Dasselbe gilt für Schulen, wo junge Muslime oft gegen Glaubensbrüder vorgehen, die nicht fasten. In einigen Städten gibt es bereits eine Geschlechtertrennung in den öffentlichen Schwimmbädern. Eine weitere Forderung zielt darauf ab, die offiziellen Feiertage des Islam in den republikanischen Kalender einzuschreiben. Der Wille zu „Offenheit“ und „Toleranz“ macht sich im Stadtbild nicht nur durch die Bildung von Ghettos und rechtlosen Zonen bemerkbar, sondern auch durch exotische Straßennamen. Sogar vor der Polygamie verschließen die Behörden die Augen. Es gibt also genügend Anhaltspunkte für den berechtigten Verdacht, daß islamistische Organisationen es darauf angelegt haben, eine schrittweise Einführung der Scharia zu probieren, jenes Korangesetzes, das keine Unterscheidung zwischen Kirche und Staat kennt. Anders ausgedrückt, nämlich mit den Worten der weniger heuchlerischen islamistischen Meinungsführer: Europa wird als Territorium betrachtet, „das es für das große Kalifat zu erobern gilt“. Am 27. Mai wurde ein parlamentarischer Ausschuß eingerichtet, der über religiöse Symbole an Schulen Bericht erstatten soll. Die Verlautbarungen seiner Mitglieder lassen darauf schließen, daß man den „republikanischen Pakt“, den Laizismus und die vermeintliche Toleranz nicht zu hinterfragen gedenkt. Auch wird niemand zu sagen wagen, daß der Schleierstreit ebenso wie die Tatsache, daß der Islam zur zweiten Landesreligion werden konnte, einer blinden Einwanderungspolitik geschuldet ist, deren Ursprünge in den siebziger Jahren liegen. Der heutige Präsident Chirac war es, der damals als Premierminister jene Maßnahmen zur Familienzusammenführung erließ, mit deren Hilfe sich die maghrebinische Einwanderung dauerhaft in Frankreich ausbreiten konnte. Unter den „einfachen Leuten“ wächst derweil die Frustration. Sie nehmen den „Zusammenprall der Zivilisationen“ längst als alltägliche Realität wahr. Am 12. September 1683 wurden die Türken auf dem Kahlenberg vor den Toren Wiens von den kaiserlichen Truppen unter Führung Herzog Karls V. von Lothringen zurückgeschlagen. Die Befreiung Wiens brachte dem Kaiser Leopold I. im gesamten Christentum enormen Ruhm ein. Trotzdem gab es nirgends offizielle Feierlichkeiten zum 320. Jubiläum dieses historischen Ereignisses. Haben die Europäer ihr Gedächtnis verloren?