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Marc Jongen, ESN Fraktion

Souveränität reicht nicht

Souveränität reicht nicht

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Souveränität reicht nicht

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Cato, Palmer, Exklusiv

Wenn Egon Bahr, ehemaliger Bundesminister und Berater Willy Brandts, zu Gast ist, dann stellt sich jenes sympathische Gefühl für die SPD ein, das man noch aus Schultagen kennt. Man erinnert sich an den Kampf der Sozialdemokratie für einen gerechten Anteil des Volkes an den Reichtümern der Nation, an den liebenswerten Spott von der „königlich preußischen Sozialdemokratie“, an den Versuch Friedrich Eberts, die Monarchie zu retten, den Kampf gegen Revolution und Konterrevolution, den Widerstand gegen die Nazis und die Opposition gegen die alliierten Besatzer bis zum Tode Kurt Schumachers, bis hin zu Willy Brandts und Helmut Schmidts Engagement für Schwarz-Rot-Gold. Kurzum, die Erinnerung an die patriotische Sozialdemokratie der Arbeiter und kleinen Leute kehrt zurück, die noch Avantgarde war, bevor Intellektuelle und National-Neurotiker die Partei kippten, die alten Genossen rausekelten und der Partei die Gestalt eines schmierigen Zeitgeistritters gaben. Nichts ist ferner als ein „Pop-Beauftragter“ Siegmar Gabriel, wenn Egon Bahr anwesend ist. Zu Gast war er am Mittwoch vergangener Woche beim Berliner „Dienstagsgespräch“ des Unternehmers Hans-Ulrich Pieper im historischen Ratskeller im Stadtteil Schmargendorf. Etwa dreißig Zuhörer lauschten bei Wein und Kerzenlicht dem Fazit, das Bahr aus seiner Analyse der geistigen Verfaßtheit Deutschlands heute zog. Daß Bahr die Abkehr vom Nationalstaat ebenso kritisiert wie weiland Willy Brandt – beide galten bekanntlich vielen ihrer Parteigenossen lange Zeit insgeheim nur noch als die „Alten mit dem nationalen Tick“ -, überraschte nicht, aber das Verdikt „dekadent“ dann doch. Denn wer diese Vokabel aus dem Repertoire des Kulturkampfes benutzt, der hält nicht nur eine aktuelle Politik für falsch, der kritisiert Geistes- und Gemütszustand des Adressaten, der macht deutlich, daß da schon länger und ganz grundlegend „etwas schiefläuft“. Souveränität – das ist Bahrs Stichwort. Souverän zu sein, verstünden die Deutschen bis heute nicht recht. Er selbst beschreibt sein außenpolitisches Wirken – und aufmerksame Zeitungsleser wissen das – als stets darauf gerichtet, diese nach 1945 für Deutschland zurückzugewinnen bzw. bei eingeschränkter Souveränität im Sinne deutscher Interessen zu operieren. Dieses lange Streben habe mit der Wiedervereinigung endlich seinen glücklichen Abschluß gefunden. Doch – und der patriotische Schulbuchlack der „alten“ SPD kriegt erste Kratzer – fragt man sich, ob der Mann denn vielleicht vor lauter Außenpolitik die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands zumindest der siebziger und achtziger Jahre glatt verpaßt hat. Das wäre um so sträflicher, als doch Voraussetzung für jede Außenpolitik nicht nur die „Macht zu handeln, wie man will“ (Bahr über die USA) ist, sondern den Willen dazu überhaupt zu haben. Doch diese Tiefe der deutschen Misere meidet er in seiner historischen Rückschau weitgehend. Immerhin wittert er den immanenten Fehler, als er erklärt, nach dem Krieg hätten die Deutschen – unter dem Eindruck der Versorgungskrise und der totalen Zerstörung ihres Staatswesens – sich verständlicherweise schnell daran gewöhnt, die Verantwortung für das eigene Geschick den Siegermächten zuzugestehen. Daß ergo eine kunstvolle Politik der diplomatischen „Rückeroberung“ der Souveränität nicht reicht, sondern Deutschland eines nation building nach innen bedurft hätte, darauf kommt Bahr aber nicht. Auch stellt sich dem Zuhörer die Frage – und wieder kratzt es schrill über den Lack -, ob Brandt und Bahr die neue Ostpolitik, die beide (und dies sei ihnen zugestanden) als patriotisch betrachten, nicht mittels einer Generation von Deutschen politisch durchgesetzt haben, die genau das war und ist, was Bahr heute kritisiert: nämlich nationvergessen und bereit, das eigene Schicksal in die Hände anderer zu legen – und zwar anders als ihre Adenauer-Väter nicht nur in die Hände der Amerikaner, sondern auch in die Hände der Sowjets, mit deren friedlicher Gesinnung man trotz Diktatur und Terror wie selbstverständlich rechnete. Schlossen Brandt und Bahr also nicht ein innenpolitisches Bündnis mit den Décadents, um außenpolitisch Spielraum zu gewinnen? Für … ja, wofür dann eigentlich noch? Zugegeben, mit wem hätten Brandt und Bahr sich sonst verbünden sollen? Der CDU/CSU? Wer so etwas vorschlägt, dem wäscht Bahr den Kopf: Er berichtet von seinem Tischgespräch mit CDU-Gründer Jakob Kaiser, der verzweifelt warnte, man dürfe die CDU nicht Adenauer, „diesem Separatisten“, in die Hände fallen lassen. Oder von seinem Gespräch mit US-Offiziellen, die anläßlich der Stalin-Note vom März 1952 durchaus Gesprächsbereitschaft signalisierten – ganz im Gegensatz zu Adenauer. Und für Amerika selbst, so Bahr, da solle man sich keine falschen Vorstellungen machen, sei die Bundesrepublik sowieso immer nur „ein Protektorat“ gewesen. Nach einem Abend mit Egon Bahr, der einfach zu viele Fragen offenläßt, hat unsere SPD-Sentimentalität gelitten, doch gleichzeitig ist auch das Verständnis für die Unzulänglichkeit jeder Entscheidung in der Unübersichtlichkeit historischer Situationen gewachsen. Und damit auch die Erleichterung darüber, sich bislang selbst nie in einer solchen Situation bewähren zu müssen. Dekadent?

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