Israel wählt am 28. Januar ein neues Parlament, und noch nie fanden Knes-set-Wahlen unter schwierigeren Umständen statt: den permanenten Selbstmordanschlägen von Palästinensern und einem drohenden Irak-Krieg. Trotzdem scheint das Ergebnis des Urnenganges vorab festzustehen: Die rechte Likud-Partei von Premier Ariel Scharon wird von 19 auf 30 bis 35 Mandate anwachsen (von insgesamt 120). Die sozialdemokratische Arbeitspartei wird von 25 auf 20 bis 22 Mandate abrutschen. Und dabei ist es nicht einmal sicher, ob die Partei von Amram Mitzna, dem Bürgermeister von Haifa, wenigstens als zweitgrößte Formation aus dem Rennen hervorgehen wird. Umfragen prophezeien nämlich einen rasanten Aufstieg der radikal-säkulären Schinui-Partei, die mit sechs Mandaten bislang nur sechststärkste Kraft war und nun mit mindestens 15 Sitzen rechnen kann. Schinui (hebräisch: Wandel, Erneuerung) ist eine Partei, deren Programmatik nur jemand verstehen kann, der die Grundprobleme der israelischen Gesellschaft kennt: Jeder Israeli weiß, wofür Scharon steht: für militärische Sicherheit, für die Beendung des Palästinenser-Terrors mit eiserner Hand, für die Ablösung von Palästinenserpräsident Arafat, für die Reform der palästinensischen Autonomiebehörde als Vorbedingung für die Gründung eines Palästinenserstaates, für den Schulterschluß mit den USA. Zwischen Scharon und US-Präsident George W. Bush herrscht ein bisher nahezu beispielloses Einvernehmen in bezug auf die Bekämpfung des Terrors und die Zukunft. Die Arbeiterpartei ist vor zwei Jahren als Juniorpartner in das Kabinett Scharon eingetreten, sie kündigte jedoch letztes Jahr die Koalition nominell wegen einer eher unbedeutenden Finanzfrage. Ihr damaliger Vorsitzender, Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliezer, hatte gehofft, er könnte in der Opposition mehr Stimmen hinzu gewinnen. Scharon ging auf das Spiel nicht ein, er vertraute darauf, daß ein Großteil der 4,6 Millionen Wähler seine harte Haltung gegen die Palästinenser unterstützen würde und zog die Parlamentswahlen vor. Die Arbeiterpartei reagierte, indem sie Ex-General Ben-Eliezer, der Scharons harten Kurs mittrug, abwählte und Mitzna an die Spitze stellte. Der 57jährige Mitzna knüpft dort an, wo Ex-Premier Ehud Barak aufgehört hatte, nämlich mit dem Versprechen, die Armee aus den besetzten Gebieten – Judäa, Samaria und Gaza – abzuziehen und die Friedensgespräche mit Arafat unverzüglich wieder aufzunehmen. Doch die Mehrheit der Wähler honoriert diese Beschwichtigungspolitik offenbar nicht. Im israelischen Wahlkampf wird seit jeher mit harten Bandagen gekämpft. Kürzlich gruben die Wahlkampfstrategen der Arbeitspartei einen Finanzskandal aus: Ariel Scharon habe von einem südafrikanischen Freund ein Darlehen von 1,5 Millionen Dollar erhalten, um seine Schulden aus der letzten Wahlkampagne zu decken. Das Geld, das von einem Scharon-Sohn angenommen worden war, ist zwar längst zurückgezahlt; strafrechtlich ist der Vorgang jedoch problematisch, denn das Gesetz verbietet es, für Wahlkampfzwecke ausländische Zuwendungen anzunehmen. Einige Tage lang fiel Scharon in den Umfragen stark zurück, doch bald stieg die Zustimmung für Scharon wieder. „Wenn es um das Wohl des Landes geht und ich zwischen einem ehrlichen Narren und einem klugen Gauner zu wählen habe, wähle ich den letzteren“, seufzte ein weiser alter Mann an einem Kaffeehaustisch in der Tel Aviver Dizengoff-Straße. Der Skandal um das Darlehen und die Beschwichtigungspolitik Mitznas sind aber nicht die einzigen Gründe für den Aufstieg der 1997 gegründeten liberalen und antireligiösen Schinui-Partei. Parteichef ist der 71jährige, perfekt deutsch sprechende Ex-Journalist Josef „Tommy“ Lapid, ein in Serbien aufgewachsener Juristensohn, der nach dem Zweiten Weltkrieg – wie der beliebte Humorist Efraim Kishon – aus Ungarn nach Israel einwanderte. Seit vielen Jahren kämpft Lapid – der von sich sagt, er habe Gott verloren, als sein Vater 1944 von der Gestapo abgeholt wurde – für ein zentrales politisches Ziel: das Brechen der Macht der religiösen Orthodoxie in Israel. Die Studenten in den zahlreichen Jeschiwas – den Bibel- und Talmudschulen – sollen Wehrdienst leisten wie alle anderen Bürger, das Familienrecht soll aus der ausschließlichen Kompetenz des Rabbinats gelöst und die zivile Heirat gestattet werden, das Verbot des Busverkehrs am Sabbat soll abgeschafft werden – alles provokante, aber populäre Forderungen, da die orthodoxen Juden zwar nur eine Minderheit sind, sie aber mittels der Schas-Partei und anderen stets das Zünglein an der Waage bilden. Lapid, der erst seit zwei Jahren Schinui-Mitglied ist, schließt daher eine Koalition mit den Religiösen kategorisch aus: „Man muß nicht den Staat von der Religion trennen, sondern die Religion von der Staatskasse“, verlangt Lapid, der nicht mal zum Jom-Kippur-Fest, dem höchsten Feiertag, in die Synagoge geht. Andererseits lehnt Lapid, der einst als Rundfunkdirektor und Maariv-Kolumnist vor dem „wirtschaftlichen Koloß“ Deutschland warnte, die „Appeasement-Politik der Linken“ ab. Der letzte Holocaust-Überlebende in der Knesset sieht sich als Kämpfer für „westliche Werte“, er warnt vor einem „korrupten Orient, einem faulen Orient, einem fanatischen Orient, der die ganze Welt bedroht“ – weshalb ihn die linke, ebenfalls säkulare, aber araberfreundliche Meretz-Partei als „Rassist und Chauvinist“ angreift. Befreiung Israels aus seinen theokratischen Fesseln Um seine Ziele zu erreichen, präferiert Lapid daher eine große Koalition „der nationalen Einheit“ aus Likud, Arbeitspartei und Schinui. Aber Mitzna schließt öffentlich – jedoch ohne Rücksprache mit seiner Partei – eine Koalition mit Scharon definitiv aus. Doch dagegen erhob sich in den letzten Tagen der rechte Parteiflügel. Daher ist sehr wahrscheinlich, daß die Arbeitspartei nach der Wahl Mitzna wieder ablöst und sich spaltet – nicht zum ersten Mal in ihrer jahrzehntelangen Geschichte. Der linke Flügel könnte mit der Meretz-Partei zusammengehen und der rechte Flügel um Ben-Eliezer und Ex-Minister Efraim Sneh eine Koalition mit Scharon und Lapid bilden. Damit würde einerseits der harte Kurs von Scharon in der Palästinenser-Frage fortgesetzt – andererseits besteht aber die Chance einer Befreiung der israelischen Demokratie aus ihren theokratischen Fesseln.
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