Seit seinem Amtsantritt im vergangenen Juli bemüht sich der neue Innen- und Sicherheitsminister Nicolas Sarkozy, den Franzosen die Angst zu nehmen. Wie begeistert die Wähler von ihm sind, zeigt eine Umfrage, die am 19. Dezember in Paris-Match veröffentlicht wurde: Unter den Konservativen wird Sarkozy derzeit als Favorit für die nächsten Präsidentschaftswahlen in vier Jahren gehandelt. Diese Beliebtheit ist auf seine Medienpräsenz und auf die spektakuläre Umorganisierung der Polizeikräfte zurückzuführen. Doch die traurige Wirklichkeit ist, daß die Kriminalität in Frankreich ständig zunimmt. „Wie weit wird Sarkozy kommen?“ fragte vor kurzem Le Nouvel Observateur, das Leib- und Magenblatt der denkenden Linken. In den letzten Monaten machte der Innenminister immer wieder Schlagzeilen quer durch den französischen Blätterwald. Sarkozy, der als „starker Mann“ der Regierung gilt, ist so offensichtlich zum Liebling der bürgerlichen Rechten geworden, daß Premierminister Jean-Pierre Raffarin schon Gerüchte dementieren mußte, er verüble dem Minister seine über die Landesgrenzen hinausgehende Popularität. Professionelles Gespür für populäre Aktionen Wie läßt sich dieser schier unaufhaltsame Aufstieg erklären? Im Gegensatz zur Linken, die das Verlangen der Bürger nach Sicherheit allzu lange als „Besessenheit“ abtat, hat Sarkozy die Macht der Angst genau richtig eingeschätzt. Seit seinem Einzug in das Innenministerium am Place Beauvau, einen Katzensprung vom Präsidentenpalast entfernt, hat er sich als Bollwerk gegen die Verunsicherung der Bürger bewährt, dessen Wirkung im ganzen Land zu spüren ist. Seine Vorbilder sind Georges Clemençeau (1841-1929), der sich als „erster Polizist“ Frankreichs bezeichnete, und der langjährige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani. Er besucht Polizeireviere, nimmt an nächtlichen Streifen teil und ist schnell zur Stelle, wo immer es brenzlig wird. Wenn ein mutmaßlicher ETA-Drahtzieher aus Polizeigewahrsam flieht, verhängt Sarkozy Strafen gegen die verantwortlichen Polizisten. Wenn die ehemalige sozialistische Justizministerin Elisabeth Gigou ein Polizeirevier der „Unregelmäßigkeiten“ bezichtigt, leitet er eine Untersuchung ein, die die Anschuldigungen gegen die Polizisten entkräftet. Wenn das Asylantenlager in Sangatte zu einem allzu schlimmen Ärgernis wird, beschließt er mit Zustimmung des sozialistischen Parlamentsabgeordneten für Pas-de-Calais, Jack Lang, es zu schließen. Dank seines ausgeprägten Gespürs für publikumswirksame Aktionen gelingt es ihm, allgegenwärtig zu sein. Als fieberhafter Redner bedient Sarkozy sich gerne des Fernsehens, um seine Popularität zu steigern. Sein Auftritt in der Sendung „Cent minutes pour convaincre“ im Dezember brach mit 5,8 Millionen Zuschauern alle Rekorde und übertraf selbst die Zuschauerzahl, die der Premierminister am 26. September erzielt hatte. Am Ende der Sendung bejubelte das Publikum den eindeutigen Punktsieg, den Sarkozy über seinen Widersacher Jean-Marie Le Pen davongetragen hatte. Der Innenminister gab sich nicht nur als „vorbildlicher Republikaner“, sondern brüstete sich auch seiner eigenen ungarischen Abstammung und machte sich in der Einwanderungsfrage für das Prinzip des Bodenrechts stark. Als nächstes lud der Fernsehsender France 2 Sarkozys Ehefrau Cécilia ein, die ihm einen neuen Zuschauerrekord bescherte. Mitte Januar konnte Sarkozy den Flüchen des sozialistischen Pariser Bürgermeisters Bernard Delanoë mit einem überlegenen Lächeln begegnen. Sarkozy beherrscht das Zusammenspiel von Gestik und Rhetorik perfekt. Er bedient sich einer vermeintlich volksnahen Sprache, wenn er seine Absicht bekräftigt, der „Explosion des Verbrechens Einhalt zu gebieten, denn die Angst frißt uns auf“. Er wird nicht müde zu beteuern, die „Gewißheit, ungestraft davonzukommen“ sei „der wichtigste Motor der Kriminalität“, ergreift Partei für die Opfer und schreckt nicht davor zurück, den Begriff „Null Toleranz“ in den Mund zu nehmen. Um seiner Verteufelung durch die Linke entgegenzuwirken, äußert er aber auch seine Sorge um „humanitäre Werte“. „Alles Augenwischerei“, sagen seine Kritiker. Ihnen kann er erwidern, daß er der Polizei und Gendarmerie zusätzliche Mittel von 5,6 Milliarden Euro und die Schaffung von 13.500 neuen Stellen bis 2007 gesichert hat, daß er die Gendarmerie der Autorität des Innenministers unterstellt hat, daß er die Einsatzbereitschaft erhöht und Prämien für besondere Verdienste eingeführt hat. Zweifelsohne hat diese Betriebsamkeit die ihm unterstellten Funktionäre aus dem Schlaf geschreckt und zugleich dafür gesorgt, daß die Bürger wieder ruhiger schlafen. Letzte Woche verteidigte er vor der Nationalversammlung das von ihm auf den Weg gebrachte Gesetz zur inneren Sicherheit. Sein Ziel sei nicht, über die Tugend der Bevölkerung zu wachen, sondern „den Franzosen das Gefühl der Sicherheit zurückzugeben“. Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes sollen der Polizei noch mehr Befugnisse eingeräumt und neue Straftatbestände geschaffen werden. Vor allem richtet es sich gegen Prostituierte, Bettler, Obdachlose sowie gegen Versammlungen in öffentlichen Gebäuden. Die Linke sieht diesen Gesetzesentwurf als Angriff auf die bürgerlichen Freiheiten. In Paris, Nantes und Rennes gingen Tausende von Menschen auf die Straße und skandierten: „Sarko – Fascho!“ Dieser hatte nur ein müdes Lächeln für sie übrig. Umfragen zufolge stehen über sechzig Prozent der Franzosen hinter seiner Politik. In Frankreich gilt der Innenminister als bedeutende Persönlichkeit, gleichermaßen vom Volk gefürchtet und fürchterlich exponiert. Eigentlich hatte Sarkozy, der 1988 zum ersten Mal in die Nationalversammlung gewählt wurde und von 1993 bis 1995 unter dem neogaullistischen Premierminister Edouard Balladur die Ämter des Haushaltsministers und Regierungssprechers bekleidete und die Aufgaben des Kommunikationsministers wahrnahm, andere Pläne. Am liebsten wäre er Premierminister geworden. Alles weist darauf hin, daß das Amt des Innenministers nur als Sprungbrett für seinen weiteren Aufstieg dienen wird. Paradoxerweise ist sein wahres Antlitz im Schlaglicht der Öffentlichkeit bislang einigermaßen unscharf geblieben. Der Anwalt, der mit 28 Jahren Bürgermeister von Neuilly wurde, dieser bürgerlichsten aller Pariser Vorstädte, wurde am 28. Januar 1955 in Paris geboren. Sein Vater stammte aus dem ungarischen Kleinadel und war 1949 nach Frankreich ausgewandert. Mit bald 48 Jahren kann Sarkozy nur noch mit Mühe und Not als „junger Wolf“ durchgehen. Tatsächlich ist er ein alter Fuchs, der auf eine lange Karriere im gaullistischen Lager zurückblicken kann. Daß er „zubeißen“ kann und seine Beute mit niemandem teilt, ist unbestritten. Seine politische Laufbahn begann dieser professionelle Opportunist 1974 als Schützling des früheren Premierministers Jacques Chaban Delmas. Er konnte die Gunst Jacques Chiracs erringen und 1977 ins Zentralkomitee des neogaullistischen RPR aufsteigen. Im April 1983 schnappte er seinem Lehrmeister Charles Pasqua das Amt des Bürgermeisters von Neuilly vor der Nase weg. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 kündigte er Chirac die Treue auf und unterstützte Balladur. Seinen Versuch, in der Krise des RPR die Parteiführung zu übernehmen, mußte er schnell aufgeben – allzu viele Hindernisse wurden ihm vor allem von Alain Juppé in den Weg gestellt. Um sein Profil des Arrivisten zu bekämpfen, gibt Sarkozy sich als Mann mit Überzeugungen. Während einige seiner Weggefährten aus dem RPR mit der Linken kokettieren, schlägt Sarkozy die entgegengesetzte Richtung ein. Er identifiziert sich offen als „Rechter“ und sagt, er habe keine „Komplexe“: „Ich sehe nicht ein, wieso ich mich dafür entschuldigen sollte.“ Jede Verbindung mit dem Front National weist er aber von sich: Die Rechte, der er sich zugehörig fühlt, ist selbstverständlich eine „republikanische“ und „liberale“. Als sein Vorbild zitiert er Georges Mandel (1885-1944), den Erfinder des telefonischen Abhörverfahrens und Innenminister der Dritten Republik, der 1944 im Wald von Fontainbleu von der französischen Darnand-Miliz ermordet wurde. Auch Sarkozys Sympathien für Israel sind bekannt. Ansonsten aber hängt er sein ideologisches Fähnchen nach dem Wind. Sarkozy ist ein hochtalentierter Dämagoge, ein Meister der Kunst, seine Zuhörer von eben jener Aufrichtigkeit zu überzeugen, die sein verstohlenes Gebaren Lügen straft. Vor allem ist er ein Mann, der ständig unter Hochdruck steht. Seine kleinwüchsige Statur gleicht er mit einem nervösen Gang, einer grenzenlosen Herrschsucht, einer fieberhaften Betriebsamkeit und einer unglaublichen Machtgier aus. Schon als Haushaltsminister war er hyperaktiv. Damals prägte Jacques Chancel den Spruch: „Es ist nicht Sarkozy, der zuviel tut, sondern die anderen tun nicht genug.“ Viele politische Beobachter prophezeien Sarkozy eine große Zukunft. Thierry Souzeaux erinnerte in der Zeitschrift Le Spectacle du Monde daran, daß bereits vier Ex-Innenministern der Griff nach der Präsidentenwürde gelungen ist: Adolphe Tiers, Emile Loubet, Armand Fallières und François Mitterrand. Dabei übersieht er allerdings, daß weder Charles Pasquas noch Jean-Pierre Chevènements Popularität als Innenminister ausreichte, um diesen Ehrgeiz zu befriedigen. Spektakuläre Polizeieinsätze mögen das Volk beruhigen und „das Gefühl der Sicherheit wiederherstellen“. In Wirklichkeit gibt es wenig Grund zur Freude. Zwar sind im Straßburger Viertel Haute-Pierre in der Silvesternacht 2002 weniger Autos in Brand gesetzt worden als im Jahr zuvor. Im elsässischen Mülhausen ist die Zahl dafür angestiegen. Auch die Bilanz der ersten Wochen des neuen Jahres stimmt alles andere als hoffnungsvoll: In La Garenne-Colombes (Hauts de Seine) ein Lehrer mit einem Messerattackiert. Die Krankenschwester, die am Heiligabend an der Schwelle zu ihrer Wohnung in Asnières (Hauts-de-Seine) mit Benzin übergossen wurde, ist inzwischen gestorben. Der Täter, ein vorbestrafter Geistesgestörter, behauptete in seinem Geständnis, er habe „auf Befehl Gottes“ gehandelt. In Evry (Essonne) mußte die Polizei eingreifen, um die Kunden eines Einkaufszentrums zu schützen, die von einer bewaffneten Bande terrorisiert wurden. Währenddessen wuchern in den maghrebinischen Vorstadtsiedlungen unter dem Einfluß des Islamismus und der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung die terroristischen Netzwerke. Sarkozys Lorbeeren sind zumindest verfrüht. Die Zahlen, die sein Ministerium Mitte Januar veröffentlichte, zeigen eine Verschlimmerung der Lage. Während die Kriminalität in den städtischen Zentren abnahm, stieg sie an den Stadträndern und auf dem Land an. Die Zahl der Verbrechen gegen Personen hat im Vergleich zu 2001 um 8,6 Prozent zugenommen, die der Morde gar um 26,3 Prozent (1.322 gegenüber 1.047). Auch die Welle der Vergewaltigungen nimmt kein Ende: 10.460 Fälle wurden im letzten Jahr zur Anzeige gebracht, fast die Hälfte davon betrafen Minderjährige. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet dies einen Anstieg von 9,25 Prozent. Fazit: Die einzigen Erfolge, die Sarkozy bislang erzielen konnte, sind psychologischer Natur. Angesichts der ansteigenden Angst kein schlechter Anfang, sagen manche.
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